Eine machtgesättigte Symbiose

Die Geschichte von Kolonialismus und Mission

 

Außerdem beruhte der Kolonialismus in Amerika auf der eindeutigen Überlegenheit Europas, wovon bis dahin in Asien nicht die Rede sein konnte. Erst im 19. Jahrhundert sollte sich das zum Nachteil Indiens, Japans, Chinas und anderer Länder ändern. Erst damals kam es weltweit zu der selbstverständlichen politischen und wirtschaftlichen Überlegenheit Europas. Das eröffnete den Missionen zwar neue Chancen, fand aber nunmehr in einer nicht mehr eindeutig christlichen, sondern zumindest teilweise säkularisierten Kulturwelt statt. Missionare blieben trotzdem mehr denn je von der Überlegenheit Europas überzeugt. Auch als ihr Missionsauftrag nach der Aufklärung nicht mehr selbstverständlich war, sondern stattdessen von der säkularen Zivilisationsmission Europas als Leitideologie abgelöst wurde, blieb es bei der praktischen Symbiose oder wenigstens der Zusammenarbeit von Mission und Kolonialismus, freilich nicht bedingungslos. Denn Amerikaner oder Afrikaner mochten den Missionaren noch so primitiv vorkommen, sie galten ihnen dennoch als glaubens- und bildungsfähig, während der Sozialdarwinismus Europas um 1900 fremde Rassen für unzivilisierbar und zum Aussterben oder zur Ausrottung bestimmt erklärte.

 

Demgemäß musste die evangelische Mission im deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama im heutigen Namibia von 1906 bis 1908 zwar vor der staatlichen Gewalt kuschen und sich auf Milderungsversuche beschränken. Aber der Missionsinspektor Franz Michael Zahn aus Togo hatte nichtsdestoweniger schon 1888 schreiben können: „Ich bin überhaupt gegen Kolonien und das ist natürlich heute genug, um uns zu Vaterlandsfeinden zu machen. Aber wenn ein Missionar in Politik sich hineinbegibt und die deutschen Kolonialerwerbungen durch seinen Einfluss fördert – so halte ich das (…) für einen großen Fehler, um nicht zu sagen für ein Verbrechen.“ 1891 fügte er hinzu: „Ob es für den Staatsmann und den Geschäftsmann gerecht (…) ist, den Eingeborenen als Glied einer inferioren Rasse zu behandeln, habe ich hier nicht zu untersuchen, aber in der Mission darf dieser Gedanke in keiner Weise gelten. (…) Der Neger ist unser Bruder in Christo (…). Ihre Unterordnung ist eine zeitliche, als Christen und als Menschen sind sie uns gleich. Was man einem Weißen schuldig ist, das auch ihnen.“

 

Auf die Dekolonisation Amerikas von 1776 bis 1823 folgte zunächst der Höhepunkt des Kolonialismus, der aber infolge des Zweiten Weltkriegs und der veränderten weltpolitischen Machtverhältnisse von 1945 bis 1991 von der fast vollständigen Dekolonisation der Welt abgelöst wurde. Auf eine asiatische Welle folgten mehrere afrikanische, schließlich die Dekolonisation des sowjetischen Imperiums. Inzwischen hatte die Mission des 19. Jahrhunderts aber mehrere Hundert Millionen afrikanischer Christen hervorgebracht, freilich im Gegensatz zu dem immer noch weitgehend katholischen Lateinamerika in Gestalt verschiedener Konfessionen und in Konkurrenz zum ebenfalls expandierenden Islam.

 

Dabei wurde der enge Zusammenhang von Mission und Kolonialismus erneut offenkundig, freilich in umgekehrter Richtung. Nicht zufällig sind Kolonialismus und Mission beide gleichzeitig verschwunden. Dabei mag die weltweite Säkularisierung der Religion eine Rolle gespielt haben. Wichtiger war das Ende der jahrhundertelangen Abhängigkeit der sanften Macht, Soft Power, der Mission von der harten Macht, Hard Power, der Politik. Nur Fundamentalisten wollen und können heute noch „bekehren“ – im traditionellen Sinn von Mission. Die christlichen Kirchen müssen und können stattdessen nur noch auf „Selbstbekehrung“ wie im Urchristentum setzen. Sogar die konservative katholische Kirche hat sich nicht nur längst von der Exklusion ihrer Nicht-Mitglieder in die Hölle verabschiedet, sondern verkündet neuerdings stattdessen die Inklusion aller Menschen guten Willens. Bis ins 20. Jahrhundert hatte Mission fast überall auf Assimilation gesetzt. Christentum und europäische Kultur waren zwei Seiten derselben Sache mit einem globalen Kulturwandel als Konsequenz. Stattdessen wird heute Inkulturation proklamiert, das „ist die Inkarnation des Evangeliums in einheimische Kulturen und gleichzeitig die Einführung dieser Kulturen in das Leben der Kirche“, so Papst Johannes Paul II. 1985. Das wäre eine kulturelle Hybridbildung, aber wie viele Hybride immer noch keine gleichgewichtige!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Wolfgang Reinhard
Wolfgang Reinhard ist Professor emeritus für Neuere Geschichte in Freiburg und Verfasser des Standardwerkes "Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015".
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