Eine machtgesättigte Symbiose

Die Geschichte von Kolonialismus und Mission

Auch Götter konkurrieren um die Macht über Menschen, heute z. B. die Fußballgötter! Der Gott der Juden, Christen und Muslime hingegen duldete keine Konkurrenz, er ist streng exklusiv. Dazu gehört das ebenso exklusive Bekenntnis seiner Anhänger zu ihren Gemeinden. Juden, Christen und Muslime sind ausschließlich und für immer als Bekenner ihres Gottes definiert. Bei den Christen und den Muslimen kam noch die Pflicht zur Verbreitung ihres Glaubens hinzu, mit der vollständigen Weltherrschaft des jeweiligen wahren Glaubens als Ziel. Denn der Missionsauftrag Jesu Christi bei Markus 16, 15/16 lautet: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündigt das Evangelium allen Geschöpfen. Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt.“ Das Konzil von Florenz hat 1441 die traditionelle Lehre, die auch von den späteren Reformatoren geteilt wurde, ausdrücklich bestätigt, nach der nicht nur Juden und Heiden, sondern auch Angehörige abweichender christlicher Bekenntnisse ausnahmslos ewig für die Hölle bestimmt sind. Entsprechendes gilt auch im Islam. Nahziel der christlichen Mission war daher, möglichst viele Menschen durch die Taufe vor dem Feuer der Hölle zu retten.

 

Allerdings war die frohe Botschaft des Christentums von Haus aus friedlich. Gewalt wurde abgelehnt und die Kirchen bestanden immer darauf, dass eine Bekehrung freiwillig zu erfolgen habe. Auf der anderen Seite ist aber keine Religion in reiner Form zu haben, sondern nur mit wechselnder kultureller und sozialer Besetzung. Denn Religionen unterliegen verschiedenen Machtprozessen, weil ihre Bekenner selbstverständlich mit und neben den religiösen auch ganz andere Interessen verfolgen. Religionen schaffen sich einerseits selbst Institutionen, mit der Römischen Kirche als der machtvollsten, während politische Machthaber sich andererseits der Religionen für ihre Zwecke zu bedienen wissen. Auf diese Weise entstand im Zuge der Expansion Europas seit dem Mittelalter eine machtgesättigte Symbiose von Mission und Kolonialismus.

 

Als Kolonialismus bezeichnen wir die Herstellung und Behauptung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontrolle Europas über den gesamten Rest der Welt. Erstens wurden Amerika, Australien, Neuseeland und Teile Afrikas zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert von Europäern besetzt und besiedelt. Zweitens wurden Asien, der größte Teil Afrikas und der Pazifik seit dem 18. Jahrhundert europäischer Herrschaft unterworfen. Drittens unterlagen die wenigen Länder, die formell unabhängig geblieben waren: Japan, China, Thailand, Iran und das Osmanische Reich, im 19./20. Jahrhundert ebenfalls wirtschaftlicher und politischer Kontrolle durch Europa, die nur im Falle Japans rasch beendet werden konnte. Überall waren die Missionare zusammen mit Entdeckern und Eroberern, mit Kaufleuten und Beamten Pioniere der Expansion und Vertreter der Kontrolle.

 

Freilich lassen sich die Missionare nicht ohne Weiteres als Agenten des Kolonialismus betrachten. Restbestände christlicher Friedlichkeit und des Respekts für nicht-europäische Mitmenschen blieben auch im kolonialistischen Zeitalter erhalten oder konnten wenigstens wiederbelebt werden. Weil der Vater Jesu Christi kein „erobernder Gott“ war, griffen die Spanier auf den Gott des Alten Testamentes zurück, der den Israeliten in Deuteronomium 20, 10-14 geboten hatte, vor einem Angriff zunächst Unterwerfung anzubieten. Doch bei Ablehnung „sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet, alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen“. Die Instruktion der Krone für die Konquistadoren folgte dieser Anweisung bis ins Detail. Verschiedene Missionare, vor allem Bartolomé de Las Casas, verfochten demgegenüber hartnäckig und nicht ohne Erfolg die Rechte der „Indigenas“ und setzten 1537 die keineswegs überflüssige päpstliche Proklamation durch, dass es sich bei den Eingeborenen Amerikas um rationale, zum Glauben befähigte Wesen und nicht um Halbtiere im Sinne des Aristoteles handelte. Im Endergebnis wurde Amerika christlich, wenn auch oft nur halbfreiwillig und unvollständig.

 

Die Mission der Frühen Neuzeit blieb aus theologischen, vor allem aber aus praktischen Gründen auf den römischen Katholizismus und seine Orden beschränkt. Ausschlaggebend war das Engagement Spaniens und Portugals in Amerika, während Frankreich, die Niederlande und England dort wie in Asien weniger erfolgreich und zum Teil auch wenig interessiert waren. Den Protestanten fehlte es obendrein an missionarischer Infrastruktur. Das änderte sich mit dem Aufkommen der verschiedenen nationalen oder übernationalen evangelischen Missionsgesellschaften mit Schwerpunkt in England, die im 19. Jahrhundert einen weltweiten Aufschwung evangelischer Missionen vor allem in Afrika auslösten. Die katholischen Missionen hingegen waren um 1800 zusammen mit dem Ancien Régime und dem Jesuitenorden weitgehend zusammengebrochen. Allerdings konnten die Verluste unter Führung des Papsttums bald wieder wettgemacht werden.

 

Außerdem beruhte der Kolonialismus in Amerika auf der eindeutigen Überlegenheit Europas, wovon bis dahin in Asien nicht die Rede sein konnte. Erst im 19. Jahrhundert sollte sich das zum Nachteil Indiens, Japans, Chinas und anderer Länder ändern. Erst damals kam es weltweit zu der selbstverständlichen politischen und wirtschaftlichen Überlegenheit Europas. Das eröffnete den Missionen zwar neue Chancen, fand aber nunmehr in einer nicht mehr eindeutig christlichen, sondern zumindest teilweise säkularisierten Kulturwelt statt. Missionare blieben trotzdem mehr denn je von der Überlegenheit Europas überzeugt. Auch als ihr Missionsauftrag nach der Aufklärung nicht mehr selbstverständlich war, sondern stattdessen von der säkularen Zivilisationsmission Europas als Leitideologie abgelöst wurde, blieb es bei der praktischen Symbiose oder wenigstens der Zusammenarbeit von Mission und Kolonialismus, freilich nicht bedingungslos. Denn Amerikaner oder Afrikaner mochten den Missionaren noch so primitiv vorkommen, sie galten ihnen dennoch als glaubens- und bildungsfähig, während der Sozialdarwinismus Europas um 1900 fremde Rassen für unzivilisierbar und zum Aussterben oder zur Ausrottung bestimmt erklärte.

 

Demgemäß musste die evangelische Mission im deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama im heutigen Namibia von 1906 bis 1908 zwar vor der staatlichen Gewalt kuschen und sich auf Milderungsversuche beschränken. Aber der Missionsinspektor Franz Michael Zahn aus Togo hatte nichtsdestoweniger schon 1888 schreiben können: „Ich bin überhaupt gegen Kolonien und das ist natürlich heute genug, um uns zu Vaterlandsfeinden zu machen. Aber wenn ein Missionar in Politik sich hineinbegibt und die deutschen Kolonialerwerbungen durch seinen Einfluss fördert – so halte ich das (…) für einen großen Fehler, um nicht zu sagen für ein Verbrechen.“ 1891 fügte er hinzu: „Ob es für den Staatsmann und den Geschäftsmann gerecht (…) ist, den Eingeborenen als Glied einer inferioren Rasse zu behandeln, habe ich hier nicht zu untersuchen, aber in der Mission darf dieser Gedanke in keiner Weise gelten. (…) Der Neger ist unser Bruder in Christo (…). Ihre Unterordnung ist eine zeitliche, als Christen und als Menschen sind sie uns gleich. Was man einem Weißen schuldig ist, das auch ihnen.“

 

Auf die Dekolonisation Amerikas von 1776 bis 1823 folgte zunächst der Höhepunkt des Kolonialismus, der aber infolge des Zweiten Weltkriegs und der veränderten weltpolitischen Machtverhältnisse von 1945 bis 1991 von der fast vollständigen Dekolonisation der Welt abgelöst wurde. Auf eine asiatische Welle folgten mehrere afrikanische, schließlich die Dekolonisation des sowjetischen Imperiums. Inzwischen hatte die Mission des 19. Jahrhunderts aber mehrere Hundert Millionen afrikanischer Christen hervorgebracht, freilich im Gegensatz zu dem immer noch weitgehend katholischen Lateinamerika in Gestalt verschiedener Konfessionen und in Konkurrenz zum ebenfalls expandierenden Islam.

 

Dabei wurde der enge Zusammenhang von Mission und Kolonialismus erneut offenkundig, freilich in umgekehrter Richtung. Nicht zufällig sind Kolonialismus und Mission beide gleichzeitig verschwunden. Dabei mag die weltweite Säkularisierung der Religion eine Rolle gespielt haben. Wichtiger war das Ende der jahrhundertelangen Abhängigkeit der sanften Macht, Soft Power, der Mission von der harten Macht, Hard Power, der Politik. Nur Fundamentalisten wollen und können heute noch „bekehren“ – im traditionellen Sinn von Mission. Die christlichen Kirchen müssen und können stattdessen nur noch auf „Selbstbekehrung“ wie im Urchristentum setzen. Sogar die konservative katholische Kirche hat sich nicht nur längst von der Exklusion ihrer Nicht-Mitglieder in die Hölle verabschiedet, sondern verkündet neuerdings stattdessen die Inklusion aller Menschen guten Willens. Bis ins 20. Jahrhundert hatte Mission fast überall auf Assimilation gesetzt. Christentum und europäische Kultur waren zwei Seiten derselben Sache mit einem globalen Kulturwandel als Konsequenz. Stattdessen wird heute Inkulturation proklamiert, das „ist die Inkarnation des Evangeliums in einheimische Kulturen und gleichzeitig die Einführung dieser Kulturen in das Leben der Kirche“, so Papst Johannes Paul II. 1985. Das wäre eine kulturelle Hybridbildung, aber wie viele Hybride immer noch keine gleichgewichtige!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Wolfgang Reinhard
Wolfgang Reinhard ist Professor emeritus für Neuere Geschichte in Freiburg und Verfasser des Standardwerkes "Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015".
Vorheriger ArtikelDie ersten „Nichtregierungsorganisationen“
Nächster ArtikelKolonialismus und Mission: Den Blick weiten