Die ersten „Nichtregierungsorganisationen“

Ein anderer Blick auf die Geschichte der evangelischen Mission

Es ist ein schönes, aber unterschätztes Wort: „auch“. Zum Glück bietet sich eine gute Gelegenheit, es mehr einzusetzen. In Deutschland wird endlich über die koloniale Vergangenheit diskutiert. Da ist es notwendig, auch über die Mission zu sprechen. Lange hatte man sie nicht beachtet oder mit Klischees abgetan: Christliche Missionare als willige Helfer des staatlichen Kolonialismus, als Seelenräuber und Kulturdiktatoren. Nun stellen Klischees immer einen Teil der Wahrheit vor, aber nie die ganze, vielschichtige Wirklichkeit. So sind sie stets ebenso richtig wie falsch. Darum sei hier diese These aufgestellt: Die evangelische Mission versteht man nicht, wenn man sie nur als kirchliche Parallele zum staatlichen und wirtschaftlichen Kolonialismus betrachtet, sondern man muss sie auch als Vorgängerin der heutigen „Nichtregierungsorganisationen“, der NGOs, auffassen.

 

Die Missionsgesellschaften waren im 18. und 19. Jahrhundert keine kirchlichen Einrichtungen. Sie waren „NCOs“ – „Non-Church-Organisations“ – oder in damaliger Terminologie „freie Werke“, Vereine christlich engagierter Bürger, die sich dem Ziel verschrieben hatten, den Glauben in alle Welt zu tragen. Die äußere – wie auch die innere – Mission hätte nie eine so epochale Dynamik entfaltet, wenn sie in den Strukturen der institutionalisierten Kirchen gearbeitet hätte. Diese zeigte an einer Missionierung fremder Völker kein Interesse. Es waren kleine Gruppen nonkonformistischer Idealisten, die auf diesen verwegenen Gedanken kamen und ihn mit einer Begeisterung und Opferbereitschaft in die Tat umsetzten, die in den Amtsstuben der Konsistorien eher selten anzutreffen war. Sie waren von einer intensiven Frömmigkeit angetrieben, formulierten selbstbewusst eine eigene Theologie und vertraten auch politisch fortschrittliche Positionen – nicht selten im Widerspruch zur offiziellen Kirche.

 

Im Unterschied zu einer Pastoren- und Oberkirchenratskirche wollten die Missionsgesellschaften weniger behördenmäßig arbeiten, sondern in offenen Strukturen. Sie verstanden sich als Bewegung, die sich in Netzwerken organisierte. Ihre soziale Basis bildeten Freundeskreise, Unterstützerszenen und Kirchengemeinden. Besonders innovativ waren die Missionsfreunde in der Kommunikation. Ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben, war für sie lebenswichtig. Dafür nutzten sie alte und erfanden neue literarische Formen: Briefe, Lesepredigten, Rundschreiben, Erbauungstraktate, Zeitschriften, Kinder- und Jugendbücher, Romane für Erwachsene. Hinzu kamen Vortragsreisen mit Lichtbildern, lokale und regionale Zusammenkünfte, große Missionsfeste mit Zehntausenden von Besuchern. Die Missionsgesellschaften entfesselten eine eigene Medienrevolution. Mit ihren neuen Kommunikationsformen verbanden sich ein intensives Networking und ein erfinderisches Fundraising, Vorformen des heutigen Crowdfunding. Damit sammelten sie viel Geld ein und schufen eine Graswurzelbewegung, eine Massensolidarisierung, denn all die Spender mussten regelmäßig angesprochen, informiert und zusammengerufen werden.

 

Die Arbeit der Missionsgesellschaften richtete sich ebenso nach außen wie nach innen. Es ging ihnen nicht allein darum, fremde Völker für den christlichen Glauben zu gewinnen, vielmehr sollte die Arbeit in der Ferne Rückwirkungen auf die Heimat entfalten. Wie der Gründer der Gossner-Mission erklärte: „Wenn wir dafür sorgen, dass Heiden Christen werden, so dürfen wir nicht versäumen, auch darauf bedacht zu sein, dass Christen keine Heiden werden.“ Damit verbanden sich Ansätze zu einer „Mission der Akkommodation“. Darunter versteht man den Versuch, den Missionierenden kein kulturell fremdartiges Evangelium aufzustülpen, sondern die christliche Botschaft in ihre Kultur zu übersetzen. Die Voraussetzung dafür war, dass die aufgesuchten Länder keineswegs gottlose Gebiete seien, weil Gott immer schon vor den Missionaren da war. Deshalb galt es, die Kulturen der einheimischen Völker kennenzulernen, sie anzuerkennen und sich davor zu hüten, deren Lebensweise nach europäischen Kriterien zu beurteilen.

 

Das wird nicht jedem leichtgefallen sein. Jedoch waren viele Missionare selbst Grenzgänger, exzentrische Gestalten. Sie brachen ja zu einer Lebensreise auf, bei der sie nicht wissen konnten, ob sie ihre Heimat je wiedersehen würden. Man darf nicht vergessen, dass sie sich dabei in höchste Lebensgefahr begaben. Die ersten Missionare mussten ohne Tropenmedizin auskommen und starben schnell. Aber ihr christlicher Enthusiasmus trieb sie hinaus, verbunden mit Abenteuerlust und dem Wunsch, der heimatlichen Enge zu entkommen. Die Missionare rekrutierten sich nicht aus den gehobenen Ständen, sondern stammten zumeist aus Bauern- und Handwerkerfamilien. Waren sie erst einmal in der Fremde angekommen, begannen viele, sich mit dieser neuen Heimat zu identifizieren. Sie lebten nun inmitten einer ganz anderen Kultur, erlernten mühsam eine fremdartige Sprache, begegneten bitterster Not, genossen Gastfreundschaft, wurden von einer unfassbar schönen Natur überwältigt – da wurde ihnen die deutsche Heimat oft genug zu einer fernen, immer ferneren Welt. Deshalb sollte man Missionare nicht schlicht als Befehlsempfänger eines reichsdeutschen Kolonialismus ansehen. Das Leben fern der Heimat machte aus ihnen hybride Existenzen, in denen sich Eigenes und Fremdes vermischten. Manche glichen sich den Sitten der Einheimischen konsequent an, kleideten sich wie chinesische Mandarine oder heirateten eine indigene Frau. In diesem Sinn schrieb ein Basler Missionar 1855: „Mir ist fast alles zu europäisch, ich möchte mehr, soweit das Christentum erlaubt, Neger werden, um die Neger zu gewinnen.“

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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