Befreit die Sammlungen

H. Glenn Penny schreibt "Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie"

Darin liegt vielleicht auch einer der tieferen Gründe, warum es vielen Häusern so schwerfällt, ihr „Beutegut“ wieder herauszurücken. Mit Besitzstandsdenken hat das weniger zu tun als mit der Erkenntnis, dass der Sammlungszusammenhang, so willkürlich zusammengetragen und so unvollständig dokumentiert und erforscht er auch ist, den einzigen Widerhall darstellt, den viele der untergegangenen Kulturen überhaupt noch hinterlassen haben. Auch die Raubkunstdebatte interessiert sich ja eigentlich nur für die spektakulären Stücke, die einem symbolischen Zweck zugeführt werden sollen und nicht einem Erkenntnisprozess, der den kulturellen Zusammenhang zu verstehen versucht.

 

Ethnologische Sammlungen sind für Penny deshalb wahre Schatzkammern voller historischer Spuren und unglaublich vieler Informationen über die Menschheitsgeschichte und die Kultur indigener Völker, was für ihn die große Chance bedeutet, die klassische Feldforschung einfach umzukehren. Die indigenen Völker studieren heute in den Museen der früheren Kolonialmächte ihre eigene Geschichte. Deutlich macht Penny das am Beispiel eines Besuchs von Stammesältesten der Yupik Ende der 1990er Jahre im – wie es damals noch hieß – Berliner Museum für Völkerkunde, zu dessen Prunkstücken die berühmte Schwanenmaske aus der Sammlung Jacobsen gehört. Es ging den Stammesältesten dabei weniger um „die physische Rückkehr“ dieser Sammlung nach Alaska als um die „Rückkehr der Geschichte und des Stolzes, den sie verkörperte“. Besser lässt sich die Idee vom geteilten Erbe und der universalen Verantwortung dafür kaum ausdrücken. Die Bedeutung der Gegenstände beginnt sich von ihren Körpern zu lösen. Die visuelle Wiedereinbürgerung tritt an die Stelle der materiellen. Von einer solchen Interaktion der Kulturen, schreibt Penny, habe der große Ethnologe Franz Boas nur geträumt.

 

An diesem Punkt wird Penny dann auch konkret: Was wäre möglich, wenn nur ein Bruchteil jener Hunderter Millionen Euro, die jetzt für eine weitere schicke Schausammlung mit Espressobar aufgewendet werden, der Erschließung „einer halben Million hinter den Kulissen verborgener Objekte“ zur Verfügung stünde. Das klingt wie der Stoßseufzer eines Kurators, ist aber eine weitsichtige Position. Unsere globale Welt tauscht längst Bedeutungen und Erkenntnisse aus. Der Austausch von Gegenständen ist eigentlich von gestern. Es sei Zeit, sagt Penny, die „Sammlungen zu befreien und überkommene Vorstellungen von Räumlichkeit in Museen zu überdenken“. Mit der bloßen Rückgabe von Objekten ist es also nicht mehr getan.

 

Mehr dazu: H. Glenn Penny: Im Schatten
Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie. München 2019, C.H.Beck Verlag

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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