Befreit die Sammlungen

H. Glenn Penny schreibt "Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie"

Die Auseinandersetzung um das Berliner Humboldt Forum ist zum Glaubenskrieg geworden. Ein Ausgleich scheint nicht in Sicht, noch nicht einmal ein neuer Gedanke. Die öffentliche Skepsis trifft auf eine Politik, deren Vertreter offenbar nur noch zum Ende kommen wollen, egal um welchen Preis. Doch bei Gefahr wächst, wie wir wissen, das Rettende auch. Diesmal in Gestalt des amerikanischen Wissenschaftshistorikers H. Glenn Penny, einem der besten Kenner der Geschichte der deutschen Ethnologie, der sich seit Langem um dieses Thema kümmert. Wieder ist es eine Stimme aus dem Ausland, die uns vor ideologischer Verbissenheit bewahren will. Penny fordert uns stattdessen auf, sich die Dinge doch noch einmal genauer anzuschauen, bevor weiter gestritten wird. Sein Buch, dem der Verlag leider den irreführenden Titel „Im Schatten Humboldts“ verpasst hat, kommt zur rechten Zeit, bevor die Messen im Humboldt Forum endgültig gesungen sind. Denn vieles, was dort infrage steht, nimmt sich bei näherer Betrachtung doch anders aus, als uns der Streit um die Raubkunst weismachen will. Man fragt sich überhaupt, ob die öffentlichen Wortführer in dieser Sache jemals ihren Fuß in eines der fraglichen Magazine gesetzt haben, in denen sie das Beutegut des europäischen Kolonialzeitalters vermuten. Glenn Penny hat sich dieser Mühe unterzogen, und er wird dabei eine Menge Staub und Konservierungsmittel geschluckt haben. Denn selbst die Fachleute haben sich lange Zeit nur ungern an solche Orte begeben und sich lieber an der frischen Luft der Feldforschung aufgehalten. Museumsethnologen galten ihnen als die armen Verwandten ihres Fachs; sehr zu Unrecht, wie uns Penny zeigt, obwohl sie auch bei ihm gelegentlich wie ein Haufen Messis erscheinen, die ihre Häuser vollgestopft haben, ohne am Ende zu wissen, was sie mit dem ganzen Zeug anfangen sollen. Im legendären Berliner Museum des Gründervaters Adolf Bastian waren die Räume am Ende so zugestellt, dass man sich kaum mehr rühren konnten. Wie „Kraut und Rüben“ haben das die zeitgenössischen Besucher empfunden, und der Bismarck der Berliner Museumswelt, der große Wilhelm von Bode, hätte sich am liebsten nur die schönsten Stücke herausgepickt und den Rest in die Dahlemer Depots verbannt. Solche Zustände haben Bastian und seine Nachfolger, wie Felix von Luschan, nicht davon abgehalten, auf Teufel komm raus weiter zu sammeln. Dabei war ihnen fast jedes Mittel recht. Penny spricht von einem Teufelspakt mit dem Kolonialismus und später auch von einem Teufelspakt mit den Nazis. Für ihn steht dennoch fest, dass die Ursprünge von Bastians Sammelleidenschaft „nichts mit deutschem Kolonialismus zu tun“ hatten, sondern einem großen Menschheitsprojekt geschuldet waren, dem Nachweis der gleichen Befähigung aller Völker und Kulturen.

 

Es geht in der aktuellen Debatte aber gar nicht um die ethnologische Wissenschaft, um ihre Methoden oder Theorien, sondern um den materiellen Beifang sozusagen, den sie lange Zeit lieber den Museumsleuten überlassen haben. So fragt sich Fritz W. Kramer, der Doyen der deutschen Ethnologie, in der Frühjahrsausgabe von Lettre International erstaunt, warum ausgerechnet jetzt die Sammlungen in den Fokus geraten, für die sich nie jemand interessiert habe und die jahrzehntelang im Dornröschenschlaf lagen, obwohl die höchst problematischen Umstände ihrer Erwerbung den Fachleuten durchaus bekannt waren.

 

Auch Adolf Bastian wird heute nicht als Kulturtheoretiker wiederentdeckt, sondern als derjenige unter den deutschen Ethnologen, der quasi im industriellen Maßstab begonnen hat, die materielle Kultur der indigenen Völker zusammenzutragen. Wer das Fach noch in der alten Bundesrepublik studiert hat, ist diesem sonderbaren Mann gelegentlich in den Literaturlisten begegnet, gelesen hat man ihn nicht. Seine Bücher galten als schwer genießbar und rochen nach Staub und altem Papier. Dass Bastian ein weltoffener Geist war, darin seinem liberalen Zeitgenossen Rudolf Virchow verwandt, hat man darüber vergessen. Dass er von einem universalen Menschheitsbegriff aus dachte und mit dem aufkeimenden Rassismus seiner Zeit nichts zu schaffen haben wollte, bewahrt ihn heute nicht vor entsprechenden Vorwürfen. Dass er sich im Wettlauf mit einem zerstörerischen Fortschritt aber auf der richtigen Seite sah, muss man ihm trotzdem konzedieren. „Rettet“, hieß sein Appell. „Rettet! Ehe es zu spät ist!“ Vieles, was er selbst gerettet hat, gäbe es tatsächlich nicht mehr. Auch das gehört zur dialektischen Wahrheit des Kolonialismus.

 

Doch sein Museum sollte nicht zum Schatzhaus einer weltweiten Trophäensammlung werden, sondern die Grundlage für das Studium der Menschheitsgeschichte in all ihren kulturellen Ausprägungen und Facettierungen schaffen. Dafür brauchte er die Objekte, und es konnten gar nicht genug davon sein. Sein Museum sollte ein Ort der Wissensproduktion werden, nicht der Zurschaustellung. Bastian würde sich heute wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn er von den aktuellen Plänen wüsste, die populäre Präsentation im Humboldt Forum von der Masse der Objekte in den Dahlemer Depots zu trennen. Das war genau das, was schon Wilhelm von Bode vorschwebte und was Bastian für den völlig falschen Weg hielt. Der Konflikt von heute ist also uralt und einer Lösung offenbar nicht nähergekommen. Die Völkerkundemuseen in der Tradition Bastians, schreibt Penny, wollten eben nicht „verkünden, demonstrieren oder illustrieren“; sie sollten „Werkstätten sein, in denen Daten gesammelt und Wissen produziert werden konnte“.

Darin liegt vielleicht auch einer der tieferen Gründe, warum es vielen Häusern so schwerfällt, ihr „Beutegut“ wieder herauszurücken. Mit Besitzstandsdenken hat das weniger zu tun als mit der Erkenntnis, dass der Sammlungszusammenhang, so willkürlich zusammengetragen und so unvollständig dokumentiert und erforscht er auch ist, den einzigen Widerhall darstellt, den viele der untergegangenen Kulturen überhaupt noch hinterlassen haben. Auch die Raubkunstdebatte interessiert sich ja eigentlich nur für die spektakulären Stücke, die einem symbolischen Zweck zugeführt werden sollen und nicht einem Erkenntnisprozess, der den kulturellen Zusammenhang zu verstehen versucht.

 

Ethnologische Sammlungen sind für Penny deshalb wahre Schatzkammern voller historischer Spuren und unglaublich vieler Informationen über die Menschheitsgeschichte und die Kultur indigener Völker, was für ihn die große Chance bedeutet, die klassische Feldforschung einfach umzukehren. Die indigenen Völker studieren heute in den Museen der früheren Kolonialmächte ihre eigene Geschichte. Deutlich macht Penny das am Beispiel eines Besuchs von Stammesältesten der Yupik Ende der 1990er Jahre im – wie es damals noch hieß – Berliner Museum für Völkerkunde, zu dessen Prunkstücken die berühmte Schwanenmaske aus der Sammlung Jacobsen gehört. Es ging den Stammesältesten dabei weniger um „die physische Rückkehr“ dieser Sammlung nach Alaska als um die „Rückkehr der Geschichte und des Stolzes, den sie verkörperte“. Besser lässt sich die Idee vom geteilten Erbe und der universalen Verantwortung dafür kaum ausdrücken. Die Bedeutung der Gegenstände beginnt sich von ihren Körpern zu lösen. Die visuelle Wiedereinbürgerung tritt an die Stelle der materiellen. Von einer solchen Interaktion der Kulturen, schreibt Penny, habe der große Ethnologe Franz Boas nur geträumt.

 

An diesem Punkt wird Penny dann auch konkret: Was wäre möglich, wenn nur ein Bruchteil jener Hunderter Millionen Euro, die jetzt für eine weitere schicke Schausammlung mit Espressobar aufgewendet werden, der Erschließung „einer halben Million hinter den Kulissen verborgener Objekte“ zur Verfügung stünde. Das klingt wie der Stoßseufzer eines Kurators, ist aber eine weitsichtige Position. Unsere globale Welt tauscht längst Bedeutungen und Erkenntnisse aus. Der Austausch von Gegenständen ist eigentlich von gestern. Es sei Zeit, sagt Penny, die „Sammlungen zu befreien und überkommene Vorstellungen von Räumlichkeit in Museen zu überdenken“. Mit der bloßen Rückgabe von Objekten ist es also nicht mehr getan.

 

Mehr dazu: H. Glenn Penny: Im Schatten
Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie. München 2019, C.H.Beck Verlag

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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