Erinnerungskultur aus der Nische

Die Darstellung des Ersten Weltkrieges in Comics

Geschichte mal anders: Zahlreiche Comics spielen zur Zeit des Ersten Weltkrieges und sind ein spannendes zusätzliches Lernmaterial. Theresa Brüheim spricht mit dem Vorsitzenden des Deutschen Comicvereins Stefan Neuhaus.

 

Theresa Brüheim: Herr Neuhaus, wie wird der Erste Weltkrieg in Comics bzw. in Graphic Novels dargestellt?
Stefan Neuhaus: Der Erste Weltkrieg wird unterschiedlich dargestellt – meistens als Sach- oder Roman-Comic. Beim Roman-Comic wird eine Geschichte erzählt, in der der Erste Weltkrieg den Erzählhintergrund bildet, aber auch Teil der Geschichte sein kann. Hingegen bezieht sich der Sach-Comic auf recherchierte Tatsachen, die historisch begründet dargestellt bzw. erzählt werden. Es gibt sehr viele Comics über den Ersten Weltkrieg im franko-belgischen Raum aber in Deutschland so gut wie keine.

 

Woran liegt das? Können Sie diese unterschiedliche Verbreitung an einem bestimmten Punkt festmachen? Welche Rolle spielt dabei die verschiedene geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Thema in Frankreich bzw. Belgien und Deutschland?
Zum einen hat der Comic in Frankreich eine viel größere und ganz andere Bedeutung als in Deutschland. Er ist als eine Kunstform akzeptiert wie Literatur, Film oder Ballett und wird auch als Neunte Kunst bezeichnet. In Deutschland führt der Comic ein Nischendasein, auch wenn sich das seit den letzten Jahren langsam ändert. Vermutlich wird er aber nie die Größe erreichen – auch wirtschaftlich gesehen –, die der Comic in Frankreich hat. In Frankreich werden Comics meist erst ab einer Minimalauflage von 10.000 Exemplaren herausgegeben. Für Deutschland wären 10.000 Exemplare ein toller Erfolg. Hier bewegen sich die Auflagen um 2.000 bis 3.000 Stück. Zum anderen hat der Erste Weltkrieg in Frankreich eine ganz andere Bedeutung im nationalen Gedächtnis als in Deutschland. Sicher trägt dazu der Schock der Niederlage von 1870/71 im Deutsch-Französischen Krieg bei. Da bot der Erste Weltkrieg für Frankreich die Möglichkeit, Rache zu nehmen. Weiterhin ist zu beachten, dass die Franzosen den Ersten Weltkrieg fast allein gewonnen haben. Während im Zweiten Weltkrieg Frankreich besetzt wurde und die Befreiung hauptsächlich von außen kam. Diese Aspekte sind entscheidend dafür, dass im Vergleich zu Deutschland der Erste Weltkrieg im nationalen Gedächtnis Frankreichs eine viel größere Bedeutung hat.

 

Was macht die Besonderheit der Darstellung des Ersten Weltkriegs in Comics aus – im Vergleich zu anderen Medien bzw. Kunstformen?
Generell sind Comics leichter verfügbar als andere Medien. Man kann sie schneller erfassen und mit ihnen leicht Sachverhalte und Geschichten erzählen. Denn mit einem Bild kann man oft direkter und konkreter etwas ausdrücken als mit vielen Worten in Form eines geschriebenen Textes. Der Film bietet im Vergleich einen sehr fokussierten Blick. Man muss sich dem Film ausliefern und hat wenig Möglichkeiten, wenn der Film abläuft, kurz auszusteigen und eine Weile nachzudenken, darüber zu reden. Der Film hat auch eine große suggestive Kraft. Anders im Comic: Der Leser wird emotional mitgenommen, aber hat doch immer wieder durch das eigenständige Umblättern der Seiten die Möglichkeit, sich Sequenzen nochmal anzusehen, länger an einem Bild oder Text zu verweilen. Das hilft, immer wieder eine gute Distanz zu bekommen und darüber nachzudenken.

 

Können Sie ein paar Beispiele geben, welche Comic-Autoren bzw. -Zeichner sich verstärkt mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen?
In Frankreich gibt es sehr viele Comics, die genannt werden könnten – z. B. „Mutter Krieg“ von den französischen Comic-Autoren Maël und Kris. Es ist ein Mix aus Krimi und Kriegsszenario. Dicht hinter der Frontlinie werden vier Frauen ermordet aufgefunden – alle vom gleichen Täter umgebracht. Ein Polizist soll ermitteln, was zu Konflikten mit den Soldaten in vorderster Linie führt. Denn der Polizeikommissar kämpft nicht, steckt nicht in den Schützengräben fest, sondern führt ein sicheres Leben hinter der Front. Das ist ein wichtiger Aspekt des Szenarios. „Mutter Krieg“ zeichnet ein Bild der elenden Situation der Soldaten an der Front und kontrastiert diese mit dem Wohlleben der Bourgeoisie im Hinterland. Dieser Comic soll übrigens von Olivier Marchal verfilmt werden.
Ein Beispiel für einen Sach-Comic zum Ersten Weltkrieg ist „Schlacht an der Somme – Der erste Tag“ vom US-Amerikaner Joe Sacco. Das ist ein Comic, bzw. ein durchlaufendes Bild im Leporello-Format, der ohne Text auskommt. Ein Beiheft erklärt die einzelnen Szenen und den historischen Hintergrund. Die unglaublich verlustreiche Schlacht an der Somme wird hier Szene für Szene im Tagesverlauf aus Sicht der Engländer gezeigt.
Die wohl bekanntesten Comics zum Ersten Weltkrieg stammen vom Franzosen Jacques Tardi – z. B. „Elender Krieg“. Er stellt den Ersten Weltkrieg aus der Sicht des „Poilu“ dar, also des Soldaten im Schützengraben, der als Kanonenfutter missbraucht wird. Anfangs erscheinen die Bilder recht farbig, gemäß der Handlung werden sie dann zunehmend grauer bis hin zu einem tristen schwarz-weiß. Tardis Großvater hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und erst spät seinem Enkel von seinen Erlebnissen erzählt. Diese Geschichten haben Tardi so fasziniert, dass er selbst recherchiert hat. In seinen Comics stellt er immer das Grauen und die völlig verzweifelte Lage der Soldaten in den Schützengräben dar, oft begleitet von den zynischen Kommentaren eines Soldaten. Ergänzt werden die Erzählungen mit Dossiers über die jeweilige Zeit. Das ist für viele Sach-Comics kennzeichnend. Sie legen Wert drauf, einen Sachverhalt auch mithilfe des Recherchematerials darzustellen bzw. zu ergänzen.

Stefan Neuhas & Theresa Brüheim
Stefan Neuhaus ist Kunstpädagoge und Vorsitzender des Deutschen Comicvereins e. V. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur
Vorheriger ArtikelVon Geschichtsfibeln und „Dicken Schinken“
Nächster ArtikelErinnerungskultur in Räumen gedacht