Stefan Neuhas & Theresa Brüheim - 28. Februar 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Erster Weltkrieg

Erinnerungskultur aus der Nische


Die Darstellung des Ersten Weltkrieges in Comics

Geschichte mal anders: Zahlreiche Comics spielen zur Zeit des Ersten Weltkrieges und sind ein spannendes zusätzliches Lernmaterial. Theresa Brüheim spricht mit dem Vorsitzenden des Deutschen Comicvereins Stefan Neuhaus.

 

Theresa Brüheim: Herr Neuhaus, wie wird der Erste Weltkrieg in Comics bzw. in Graphic Novels dargestellt?
Stefan Neuhaus: Der Erste Weltkrieg wird unterschiedlich dargestellt – meistens als Sach- oder Roman-Comic. Beim Roman-Comic wird eine Geschichte erzählt, in der der Erste Weltkrieg den Erzählhintergrund bildet, aber auch Teil der Geschichte sein kann. Hingegen bezieht sich der Sach-Comic auf recherchierte Tatsachen, die historisch begründet dargestellt bzw. erzählt werden. Es gibt sehr viele Comics über den Ersten Weltkrieg im franko-belgischen Raum aber in Deutschland so gut wie keine.

 

Woran liegt das? Können Sie diese unterschiedliche Verbreitung an einem bestimmten Punkt festmachen? Welche Rolle spielt dabei die verschiedene geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Thema in Frankreich bzw. Belgien und Deutschland?
Zum einen hat der Comic in Frankreich eine viel größere und ganz andere Bedeutung als in Deutschland. Er ist als eine Kunstform akzeptiert wie Literatur, Film oder Ballett und wird auch als Neunte Kunst bezeichnet. In Deutschland führt der Comic ein Nischendasein, auch wenn sich das seit den letzten Jahren langsam ändert. Vermutlich wird er aber nie die Größe erreichen – auch wirtschaftlich gesehen –, die der Comic in Frankreich hat. In Frankreich werden Comics meist erst ab einer Minimalauflage von 10.000 Exemplaren herausgegeben. Für Deutschland wären 10.000 Exemplare ein toller Erfolg. Hier bewegen sich die Auflagen um 2.000 bis 3.000 Stück. Zum anderen hat der Erste Weltkrieg in Frankreich eine ganz andere Bedeutung im nationalen Gedächtnis als in Deutschland. Sicher trägt dazu der Schock der Niederlage von 1870/71 im Deutsch-Französischen Krieg bei. Da bot der Erste Weltkrieg für Frankreich die Möglichkeit, Rache zu nehmen. Weiterhin ist zu beachten, dass die Franzosen den Ersten Weltkrieg fast allein gewonnen haben. Während im Zweiten Weltkrieg Frankreich besetzt wurde und die Befreiung hauptsächlich von außen kam. Diese Aspekte sind entscheidend dafür, dass im Vergleich zu Deutschland der Erste Weltkrieg im nationalen Gedächtnis Frankreichs eine viel größere Bedeutung hat.

 

Was macht die Besonderheit der Darstellung des Ersten Weltkriegs in Comics aus – im Vergleich zu anderen Medien bzw. Kunstformen?
Generell sind Comics leichter verfügbar als andere Medien. Man kann sie schneller erfassen und mit ihnen leicht Sachverhalte und Geschichten erzählen. Denn mit einem Bild kann man oft direkter und konkreter etwas ausdrücken als mit vielen Worten in Form eines geschriebenen Textes. Der Film bietet im Vergleich einen sehr fokussierten Blick. Man muss sich dem Film ausliefern und hat wenig Möglichkeiten, wenn der Film abläuft, kurz auszusteigen und eine Weile nachzudenken, darüber zu reden. Der Film hat auch eine große suggestive Kraft. Anders im Comic: Der Leser wird emotional mitgenommen, aber hat doch immer wieder durch das eigenständige Umblättern der Seiten die Möglichkeit, sich Sequenzen nochmal anzusehen, länger an einem Bild oder Text zu verweilen. Das hilft, immer wieder eine gute Distanz zu bekommen und darüber nachzudenken.

 

Können Sie ein paar Beispiele geben, welche Comic-Autoren bzw. -Zeichner sich verstärkt mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen?
In Frankreich gibt es sehr viele Comics, die genannt werden könnten – z. B. „Mutter Krieg“ von den französischen Comic-Autoren Maël und Kris. Es ist ein Mix aus Krimi und Kriegsszenario. Dicht hinter der Frontlinie werden vier Frauen ermordet aufgefunden – alle vom gleichen Täter umgebracht. Ein Polizist soll ermitteln, was zu Konflikten mit den Soldaten in vorderster Linie führt. Denn der Polizeikommissar kämpft nicht, steckt nicht in den Schützengräben fest, sondern führt ein sicheres Leben hinter der Front. Das ist ein wichtiger Aspekt des Szenarios. „Mutter Krieg“ zeichnet ein Bild der elenden Situation der Soldaten an der Front und kontrastiert diese mit dem Wohlleben der Bourgeoisie im Hinterland. Dieser Comic soll übrigens von Olivier Marchal verfilmt werden.
Ein Beispiel für einen Sach-Comic zum Ersten Weltkrieg ist „Schlacht an der Somme – Der erste Tag“ vom US-Amerikaner Joe Sacco. Das ist ein Comic, bzw. ein durchlaufendes Bild im Leporello-Format, der ohne Text auskommt. Ein Beiheft erklärt die einzelnen Szenen und den historischen Hintergrund. Die unglaublich verlustreiche Schlacht an der Somme wird hier Szene für Szene im Tagesverlauf aus Sicht der Engländer gezeigt.
Die wohl bekanntesten Comics zum Ersten Weltkrieg stammen vom Franzosen Jacques Tardi – z. B. „Elender Krieg“. Er stellt den Ersten Weltkrieg aus der Sicht des „Poilu“ dar, also des Soldaten im Schützengraben, der als Kanonenfutter missbraucht wird. Anfangs erscheinen die Bilder recht farbig, gemäß der Handlung werden sie dann zunehmend grauer bis hin zu einem tristen schwarz-weiß. Tardis Großvater hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und erst spät seinem Enkel von seinen Erlebnissen erzählt. Diese Geschichten haben Tardi so fasziniert, dass er selbst recherchiert hat. In seinen Comics stellt er immer das Grauen und die völlig verzweifelte Lage der Soldaten in den Schützengräben dar, oft begleitet von den zynischen Kommentaren eines Soldaten. Ergänzt werden die Erzählungen mit Dossiers über die jeweilige Zeit. Das ist für viele Sach-Comics kennzeichnend. Sie legen Wert drauf, einen Sachverhalt auch mithilfe des Recherchematerials darzustellen bzw. zu ergänzen.

Ein anderes Beispiel ist eines der sehr wenigen mit deutscher Beteiligung: „Tagebuch 14 – 18. Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich“ von Alexander Hogh und Jörg Mailliet. Das ist eine deutsch-französische Produktion – unter Mitwirkung von Gerd Krumeich. Der Zeichner ist allerdings Franzose – was schon bezeichnend ist. Es werden vier verschiedene Personen aus der Zivilbevölkerung und der Armee auf beiden Seiten porträtiert. Die Geschichten wurden aus alten Tagebüchern entwickelt. Die vier Personen haben nichts miteinander zu tun, aber es gibt Überschneidungen bei den Erlebnissen. Im Verlauf der Erzählung gibt es auch Verweise auf Originalzitate aus ihren Tagebüchern. Ergänzend ist ein Kurzdossier enthalten, das die Biografien dieser vier Personen schildert.
Eine ganz spannende neue Produktion, die noch nicht erschienen ist, heißt „Illustrated (Hi)stories“. Es geht um den Einsatz von Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg. Das Projekt wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung 2014 initiiert. In einem von Elisabeth Desta geleiteten Workshop haben verschiedene Künstler zu dem Thema Geschichten gezeichnet. Kolonialsoldaten wurden ja besonders „verheizt“. Z. B. die Askari, die Einheimischen aus Deutsch-Südostafrika, welche als Kolonialtruppen im Weltkrieg auf deutscher Seite eingesetzt wurden. Das Schicksal der Askari wird in dem demnächst erscheinenden Band kontrastiert mit einem Text von Karl May, der in seinen Romanen über sie geschrieben hat.

 

Das sind allerhand Beispiele. Was sind Ihrer Meinung nach die besten Darstellungen des Ersten Weltkrieges im Comic?
Tardis Comics finde ich besonders ergreifend. Er erzählt mit großem Zynismus sehr plastisch das Leiden und das „Verheizen“ der Poilus als Kanonenfutter. Das ist unheimlich erschütternd. Dazu bedient sich Tardi eines Zeichenstils, der für dieses Thema etwas irritierend ist. Er stellt die Soldaten z. B. mit dicken Fingern und Knollennasen dar. Sie sind also nicht hyperrealistisch gezeichnet, sondern eher abstrahiert – fast ein bisschen witzig. Das ergibt einen Bruch zu dem dargestellten Grauen, den zerfetzten Leibern und der zerwühlten Landschaft. Darauf muss sich der Betrachter allerdings auch einlassen können.

 

Herr Neuhaus, Sie waren Lehrer. Inwieweit können Comics als Unterrichtsmaterial zur Vermittlung des Ersten Weltkrieges verwendet werden? Sind sie ein gutes alternatives Lehrmittel, fernab von klassischen Geschichtsbüchern?
Sie sind ein zusätzliches Mittel. Comics generell können im Unterricht gut eingesetzt werden – nicht nur im Kunstunterricht, sondern in jedem anderen Fach. Und vor allen Dingen sind sie gut geeignet für den Geschichtsunterricht. Sie können natürlich kein Lehrbuch und schon gar nicht Quellen ersetzen, sondern sind ein Begleitmaterial. Sie können motivieren und Anreize schaffen, sich mit einem Thema näher zu beschäftigen. Das ist wichtig. Früher war Geschichte überwiegend ein Auswendiglernfach. Dadurch entwickelten die Schüler aber kein Geschichtsbewusstsein. Das Wecken, Stärken und Fördern dieses Geschichtsbewusstseins ist das Ziel eines modernen Unterrichts in diesem Fach. Und das können unter anderem auch Geschichts-Comics fördern.
Bei Tardi gibt es z. B. eine Szene, in der drei Soldaten Essen an die Front bringen müssen. Auf einmal schießt der Feind eine Leuchtkugel in die Höhe und die Soldaten werden sichtbar, sofort wird auf sie geschossen. Zwei werden getroffen, der dritte landet mit den Händen in den Gedärmen eines toten Soldaten, der schon länger an der Frontlinie verwest. In den nachfolgenden Bildern wird deutlich, der Soldat empfindet nur Eines: Angst davor, sich mit Wundbrand angesteckt haben zu können. Kein Ekel, kein Mitleid, nichts. Hier wird die Verrohung an der Front sehr anschaulich. Es geht ums nackte Überleben. So eine Szene fordert die Schüler, die spontan wahrscheinlich eher Ekel empfinden, auf, selbst nachzudenken und zu recherchieren, warum der Soldat so unerwartet reagiert.

 

Zum Abschluss noch eine Frage: Wie ist das proportionale Verhältnis der Darstellung des Ersten Weltkrieges in Comics im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg?
Der Zweite Weltkrieg ist wesentlich präsenter. Sicher auch, weil die Amerikaner, die traditionell eine große Comic-Kultur haben, an diesem Krieg viel stärker beteiligt waren. Auch in Deutschland und Frankreich gibt es mehr Comics zum Zweiten Weltkrieg.

 

Vielen Dank.


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