Die internationale Konjunktur der Erinnerung hat den Ersten Weltkrieg 100 Jahre nach seinem Beginn wieder stärker in das politische Gedächtnis in Deutschland gerufen. Davon legen nicht zuletzt die Reden des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vom 11. November 1917 auf dem Hartmannswillerkopf Zeugnis ab. Beide plädierten anlässlich der Eröffnung des ersten deutsch-französischen Weltkriegsmuseums an einem Ort, der besonders symbolträchtig für die Grausamkeit und die Sinnlosigkeit des Krieges steht, für eine auf die Zukunft gerichtete Erinnerungspolitik und -kultur. Sie hoben hervor, dass der Erste Weltkrieg 1918/19 nicht durch einen nachhaltigen Frieden beendet werden konnte, weil tiefgehende Verletzungen des Selbstwertgefühls den Weg zu Versöhnung und Verständigung versperrten. Mit diesem Hinweis berührten sie zentrale Fragestellungen, die auch für die Behandlung des Ersten Weltkrieges im Unterricht von zentraler Bedeutung waren und sind.
Schulbücher und Curricula liefern natürlich kein einfaches Abbild nationaler Erinnerungspolitiken. Aber sie werden im Rahmen spezifisch nationaler Bezugssysteme erarbeitet und eingesetzt. Schulgeschichtsbücher sind daher nach der klassischen Formulierung von Wolfgang Jacobmeyer „nationale Autobiographien“. Sie überliefern die Deutungen und Werthaltungen gegenüber der Vergangenheit, die die Generation der Erwachsenen für unverzichtbar hält, damit die Generation der Heranwachsenden die Probleme der Gegenwart und die Herausforderungen der Zukunft wird meistern können. Unter den Bedingungen der Friedensordnung von Versailles wurden die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Kriegszeit stets aktualisiert, sodass Lehrpläne und Schulbücher für den Geschichtsunterricht die nationalen Feindbilder perpetuierten und wesentlich dazu beitrugen, dass es auch in der nachfolgenden Generation nicht zu einer Verständigung und Versöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern kam. So setzten sich in der Zwischenkriegszeit, wie die Organisatoren einer internationalen Konferenz zum Thema „Erster Weltkrieg im Schulbuch“ es 2014 im französischen Montpellier formulierten, die Kampfhandlungen im „Grande Guerre des Manuels“, dem Großen Krieg der Schulbücher, fort. Ein vergleichender Blick in die Schulbücher europäischer und außereuropäischer Länder verspricht deshalb spannende Einsichten in Kontinuitäten und Wandlungen, die die Darstellungen des Ersten Weltkrieges in den letzten Jahrzehnten erfahren haben. Eine Reihe von Konferenzen und Schulbuchstudien, wie die von Barbara Christophe und Kerstin Schwedes erarbeitete Expertise des „Georg-Eckert-Instituts – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung“ zum Thema „Schulbuch und Erster Weltkrieg“ haben dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Die Darstellung des Ersten Weltkrieges im Schulbuch folgte nach 1945 zunächst dem unterschiedlichen Selbstverständnis des Geschichtsunterrichts auf beiden Seiten der ideologischen und politischen Grenzen des Kalten Krieges. In den Lehrplänen und Schulbüchern der sozialistischen Länder stand der Erste Weltkrieg für die Friedensunfähigkeit eines imperialistischen Systems, die folgerichtig in die proletarische Revolution und den Aufbau einer neuen Gesellschaft gemündet sei. Die Kritik der internationalen Rüstungsindustrie als Verantwortliche des Krieges sowie Darstellungen der Friedensbewegung und des Widerstandes gegen den Krieg, die dem Ungehorsam der Soldaten und ihrer Verbrüderung über die Schützengräben hinweg einen zentralen Platz einräumten, spielten eine wichtige Rolle in den Schulbuchnarrativen der sozialistischen Länder. Die Lehrbücher der DDR erklärten die Revolution von 1918 als Werk klassenbewusster Arbeiter, die im Gegensatz zum „Verrat der Sozialdemokratie“, auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden hätten. Demgegenüber stellten die Schulbücher der Bundesrepublik Deutschland die Ereignisse des Jahres 1918 stärker in den Kontext der Auseinandersetzungen um Demokratie und Diktatur in der Weimarer Republik.
Zentrale Themen, die über einen langen Zeitraum überaus kontrovers diskutiert wurden, bildeten in einer Reihe von westeuropäischen Lehrbüchern einerseits die Frage nach der Kriegsschuld, die in Artikel 231 des Versailler Vertrages dem deutschen Kaiserreich allein zugeschrieben worden war, andererseits die Suche nach einem gerechten Frieden. Aus diesem Grund stellte die Übereinkunft über die Darstellung der Kriegsschuldfrage in den Geschichtsschulbüchern Frankreichs und Deutschlands ein besonders wichtiges Ergebnis der deutsch-französischen Schulbuchgespräche der 1950er Jahre dar, das den Weg zu Verständigung und Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg öffnete. Die Teilnehmer der deutsch-französischen Schulbuchgespräche stellten den Friedensvertrag von Versailles in eine vergleichende Perspektive mit dem Wiener Kongress von 1815 und fragten danach, wie die Siegermächte die jeweils unterlegene Seite behandelten und welche Folgen dies für den Aufbau einer stabilen Friedensordnung nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen hatte. Inzwischen hat die Arbeit der deutsch-französischen Schulbuchkommission selbst den Status einer historischen Quelle erlangt, die Eingang in die Geschichtsbücher beider Länder gefunden hat und Schülerinnen und Schülern hilft, diesen Versöhnungsprozess zu rekonstruieren.
In dem Moment, in dem die traditionellen Narrative der nationalen politischen und militärischen Ereignisse als Leitmotiv der Schulbuchdarstelllungen seit den 1960er Jahren in Westeuropa aus geschichtswissenschaftlicher und fachdidaktischer Perspektive in zunehmendem Maße infrage gestellt wurden, begannen Autorinnen und Autoren die traditionellen Mythen von Kriegsbegeisterung und soldatischer Pflichterfüllung zu dekonstruieren. Sie richteten den Blick auf die grausame Realität des Krieges sowie auf den Alltag der Soldaten in den Schützengräben und der Zivilbevölkerung im Hinterland, der anhand von Selbstzeugnissen und fotografischen Dokumenten in den Lehrbüchern vermittelt wurde. Sie konfrontierten diese Erfahrungsberichte mit der Kriegspropaganda in den einzelnen Ländern und lenkten den Blick auf die Veränderungen, die der Krieg im Selbstverständnis von Naturwissenschaft oder Geschlechterrollen bewirkte.