Und Lenin kam doch bis Horst

Gelsenkirchen bekommt ein umstrittenes Lenindenkmal

Achtung: Triggerwarnung! Dieser Text ist ein Schritt auf dem Weg zu einem echten Sozialismus. Das müssen Sie, liebe Leserinnen und Leser, jetzt nicht auf Anhieb verstehen – wichtig ist erst mal nur, dass es im Sinne Lenins stimmt respektive im Denken der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD). Die hat nämlich im Juni eine überlebensgroße Lenin-Statue vor ihrer Bundeszentrale im Gelsenkirchener Stadtteil Horst aufgestellt und damit angeblich für mehr als 350 Medienberichte weltweit gesorgt. Weil diese für MLPD-Verhältnisse hohe Zahl in den Augen der Partei jedoch als „weiterer Schritt auf dem Weg zu einem echten Sozialismus“ zu werten ist, muss auch dieser Artikel ein Teil des Weges sein. Im Historischen Materialismus ist ja alles zwangsläufig … irgendwie.

 

Aus Sicht des Zentralkomitees (ZK) der Partei – ein echtes ZK, ja, so was gibt’s noch! – hat die enorme Resonanz aber nichts mit den dunklen Seiten Wladimir Iljitsch Uljanows zu tun, der sich seit dem Jahr 1900 „Lenin“ nannte. Doch der war eben nicht nur Sozialrevolutionär, sondern erwiesenermaßen auch ein Massenmörder: Ob ihm „nur“ 280.000, eher 2 oder sogar 13 Millionen Opfer in der Zeit zwischen der Oktoberrevolution 1917 und seinem Tod 1924 direkt oder indirekt zuzuschreiben sind, ist unter Historikerinnen und Historikern umstritten. Dass er persönlich die Verantwortung für vieltausendfachen Tod und noch mehr Leiden trug, ist es aber nicht – außer bei der MLPD. Deren deutschlandweit 2.800 Mitglieder bekennen sich bis heute offensiv zum Gründer der ersten Kommunistischen Partei und der Sowjetunion, so wie zu seinem Nachfolger Stalin. Die Korrekturen an Stalins Kurs nach seinem Tod 1953 sind für die Marxisten-Leninisten aus Horst schlicht „Verrat“ an der kommunistischen Bewegung. Kritik an Lenin nennen die deutschen Genossen „antikommunistische Propaganda“, wie die Partei auf ihrer Webseite erklärt.

 

Die neu aufgestellte Statue des Revolutionsführers ist mehr als zwei Meter groß, über eine Tonne schwer und stammt aus dem Jahr 1957. Der tschechische Bildhauer Vladimír Kýn hatte sie für eine Maschinenfabrik entworfen; nach ihrer Demontage Anfang der 1990er Jahre war sie bei einem Sammler in Österreich gelandet. Die MLPD erwarb sie, ließ sie ins Ruhrgebiet transportieren und optisch aufmöbeln. Die rund 25.000 Euro teure Aktion wurde angeblich aus Spenden finanziert.

 

Eigentlich sollte die Enthüllung der Plastik auf dem MLPD-eigenen Grundstück an Lenins 150. Geburtstag im April stattfinden. Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD) versuchte daraufhin, das mithilfe des Denkmalschutzes zu verhindern. Der gilt nämlich für das Gebäude, das die vom Verfassungsschutz beobachtete linksextremistische Partei im Jahr 2006 als künftige Bundesparteizentrale erworben hatte. Die Stadtverwaltung vertrat die Ansicht, der Lenin aus Metall passe nicht zum denkmalgeschützten Ensemble dahinter. Als ein Gericht dieses Argument schließlich im späten Frühjahr verwarf, wich die Partei auf den 38. Jahrestag ihrer Gründung am 20. Juni 1982 aus.

 

Die Stadt reagierte wiederum mit einer Kampagne unter dem Hashtag #keinplatzfuerlenin. Dazu gehören Videoclips, in denen sich Kulturschaffende, Wissenschaftlerinnen und Politiker zu Wort melden. Der Generalintendant des Gelsenkirchener Musiktheater im Revier, Michael Schulz, beteiligte sich ebenso wie die Vorsitzende des Kulturausschusses im Deutschen Bundestag, Katrin Budde. Die SPD-Politikerin wurde 1965 in Magdeburg, also in der staatssozialistischen DDR, geboren. Sie nennt die Aufstellung eines Lenindenkmals im Jahr 2020 mit authentischem Furor „absurd und unangebracht“. Eine geschichtspolitische Ausstellung zum Thema „Der Kommunismus in seinem Zeitalter“ im Schloß Horst direkt gegenüber der MLPD-Parteizentrale wurde just einen Tag vor der Enthüllung eröffnet. Auf der begann die ZK-Vorsitzende Gabi Fechtner ihre Festrede mit den Worten: „Jede Zeit hat ihre Statuen!“ Und die sei für alle Ewiggestrigen nun „eindeutig abgelaufen“, sie würden „überall auf der Welt gestürzt“. Die erste Lenin-Statue in Westdeutschland sei deshalb weniger Provokation als Tabubruch, denn: „In dieser kapitalistischen Gesellschaft, in der der Antikommunismus Staatsreligion ist, ist es bisher nicht vorgesehen, massenhaft über den Sozialismus zu diskutieren und seine Repräsentanten positiv zu würdigen.“ Dafür gab es teils freundlichen Applaus von den etwa 350 Festgästen, allerdings waren auch Protestrufe zu hören. Drei verschiedene Gruppen hatten zu Gegendemonstrationen aufgerufen; sie zählten nach Polizeiangaben etwa 70 Teilnehmende.

 

Lenin ist also nur mäßig willkommen in Gelsenkirchen – doch die umstrittenste Figur im öffentlichen Raum ist er sicher nicht. Die überragt nämlich einen knappen Kilometer entfernt gleich die ganze Stadt: Der „Herkules“ von Markus Lüpertz. Diese 18 Meter hohe Plastik hoch auf dem Turm der ehemaligen Zeche Nordstern hatte der langjährige Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie im für ihn typischen Stil roher Unfertigkeit zur Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010 gefertigt. Und sie sorgt bis heute vielfach für Reaktionen wie jene, die der Autor dieser Zeilen schon bei der Installation vor zehn Jahren miterleben konnte. Da erklärte ein Gelsenkirchener neben ihm im üblich direkten Duktus des Reviers: „Un› watt soll datt getz? Kannze gleich wieder wechschmeißen!“

 

Zwei Jahre zuvor übrigens lief ein charmant gemachter Film in den deutschenKinos: „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. In dieser sauerländischen Kleinstadt veranstaltete eine andere Kommunistische Partei, die DKP, in den 1970er Jahren stets ihr westdeutsches Sommerlager. Der Film über die stramm linke Solinger Akademikerfamilie des heute als Fernsehphilosoph bekannten Richard David Precht thematisiert auch dessen erste Begegnungen mit Lenins – nicht nur geistigem – Erbe in jenen Lüdenscheider Sommern. Ein halbes Jahrhundert später hat der Revolutionsführer es nun sogar noch mal 50 Kilometer weiter westwärts geschafft: Lenin steht jetzt in Horst. Vielleicht bleibt er nicht lang allein … die MLPD erwägt den Erwerb einer Marx-Statue.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Peter Grabowski
Peter Grabowski ist kulturpolitischer Reporter.
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