Ein Höhepunkt unter den Gedenkveranstaltungen zum 200. Geburtstag von Karl Marx war die Errichtung einer monumentalen Statue in seiner Vaterstadt Trier. Am 5. Mai 2018 wurde die Bronzeplastik vor Dutzenden akkreditierter Kamerateams und Hunderten von Ehrengästen enthüllt, darunter die führenden SPD-Politikerinnen Maria-Luise Anna Dreyer, Katarina Barley und die damalige Parteichefin Andrea Nahles. Das fünf Meter hohe Werk des Bildhauers Wu Weishan war ein Geschenk der Volksrepublik China und wurde von ihnen freudig angenommen, obwohl der politische Marxismus im heutigen Deutschland als historisch belastet gilt. Anders in China, wo der Herrschaftsbeginn von Xi Jinping mit einer Renaissance der kommunistischen Ideologie einherging – pro forma, de facto herrscht weiterhin Staatskapitalismus. Bereits 2014 hatte die Volksrepublik Wuppertal mit einer stattlichen Engels-Statue aus der Hand des Bildhauers Zeng Chenggang beschenkt. Während die chinesischen Touristen coronabedingt fernblieben, haben sich die Trierer mit der Statue arrangiert. Kritik gibt es nur vereinzelt. Im Sommer dieses Jahres forderte der Publizist Wolfram Weimer, die Figur solle den Chinesen zurückgegeben werden, „für eine liberale Demokratie wie die Bundesrepublik, die die Menschenrechte hoch schätzt“, sei so eine Schenkung nicht angemessen. Dagegen verteidigt der Baudezernent der Stadt Trier, Andreas Ludwig, das Denkmal.
Für den verschenkten Marx finden sich bemerkenswerte Parallelen in der Geschichte. So erhielt die ostdeutsche Industriestadt Chemnitz, die zuvor bereits in „Karl-Marx-Stadt“ umbenannt worden war, von der Sowjetunion gratis eine 40 Tonnen schwere Marx-Bronzebüste. Ihr Schöpfer war der Bildhauer Lew Kerbel. Die Chemnitzer Marx-Büste wurde in Leningrad gegossen, zerlegt und in der DDR wieder zusammengesetzt. Am 9. Oktober 1971 weihte sie der Künstler in Anwesenheit von Staats- und Parteichef Erich Honecker und Robert-Jean Longuet, dem Urenkel von Karl Marx, ein. Fast eine Viertelmillion Menschen hatte die DDR als Jubelkulisse aufgeboten, um eine eindrucksvolle Demonstration der deutsch-sowjetischen Freundschaft abzuliefern. Nach dem Fall der Mauer nahm Chemnitz seinen alten Namen wieder an, das Denkmal hingegen blieb als touristisches Alleinstellungsmerkmal der Stadt erhalten – es gilt als größte Personenbüste der Welt. Der wuchtige Marx-Schädel wirkt heute wie ein rätselhafter Meteorit aus einer fremden Welt, eingeschlagen im Hier und Jetzt.
Riesige Sowjet-Plastiken waren Geschenke und Machtdemonstrationen zugleich, Geschenke, die man nicht ablehnen konnte – symbolisierten sie doch die Vormachtstellung der UdSSR in der DDR.
Die gleiche Methode wendete aber auch die DDR an, um einen Juniorpartner an sich zu binden. In diesem Fall spendierte die DDR dem sozialistischen Militärregime Äthiopiens eine monumentale Marx-Büste. Die Denkmalsschenkung war anlässlich der Gründung einer „Äthiopischen Arbeiterpartei“ erfolgt und sollte das Bündnis des ostafrikanischen Landes mit der DDR festigen und symbolisieren. Der Bildhauer Joachim Jastram konzipierte einen fünf Meter hohen Steinblock aus rotem Meißner Granit, der ein Schildartiges Relief mit Marx’ Gesichtszügen trug. Das Denkmal wurde in der DDR in Einzelteilen vorproduziert, die klein genug waren, um durch die Ladeluke von Transportflugzeugen zu passen. Die Hoffnung, aus Äthiopien günstig Rohstoffe beziehen zu können, erfüllte sich nur teilweise, die wirtschaftliche Zusammenarbeit stagnierte bereits, doch Honecker feierte das Marx-Monument bei der Einweihung 1984 noch als „heilige Stätte, die das Wachsen und Gedeihen des Sozialistischen Weltsystems“ versinnbildliche. Tausende von äthiopischen Parteimitgliedern und Militärangehörigen bejubelten den Staatsratsvorsitzenden in einstudierter Choreographie und erzeugten damit bei Honecker die Illusion, die DDR könne eigenständig „Weltpolitik“ betreiben. Die neue Volksrepublik Äthiopien wurde übrigens damals reich mit Denkmälern beschenkt: Auch die Sowjetunion, die Volksrepublik China und selbst Nordkorea drückten der ostafrikanischen Erde mit gespendeten Monumenten ihre Stempel auf. Jastrams Marx-Denkmal überlebte sowohl die DDR als auch die Äthiopische Volksrepublik. Wenngleich es nach dem Ende des marxistischen Regimes 1991 mit Farbbeuteln und Steinen beworfen wurde, steht es noch heute, leicht verwahrlost, im Universitätsviertel von Addis Abeba.
Trier, Chemnitz, Addis Abeba: Die drei Schenkungsvorgänge zeigen ein einheitliches Muster. Zum einen wird das Kunstwerk ausschließlich im Exportland konzipiert, produziert, von dort aus ins Zielgebiet transportiert und durch eigene Fachleute aufgebaut. Der eigene Kunstgeschmack wird exportiert, ohne Rücksicht auf die Traditionen und Mentalitäten im Gastland. Zweitens: Obwohl es sich gerade nicht um eine künstlerische Kooperation handelte, wird offiziell viel von „Völkerfreundschaft“ und Ähnlichem gesprochen, das Werk soll als Symbol der Zusammenarbeit beider Länder dienen. Und schließlich: Der noch zu formende und zu erziehende Juniorpartner, das jeweilige „Entwicklungsland“, erhält das Geschenk aus der Hand des fortgeschrittenen „Großen Bruders“. Der Beschenkte dient zugleich als Projektionsfläche für die Größenfantasien des Schenkenden. Durch die Schenkung von Marx und Engels wurden chinesischen Touristen und Parteifunktionären einerseits erhabene Fotokulissen bereitgestellt und andererseits die anhaltende Weltgeltung des Marxismus demonstriert. Deutschland schien die Herabsetzung zum lernwilligen Juniorpartner nicht zu bemerken. Manifestierte sich den aufgedrängten Geschenken bereits das strategische Übergewicht des Handels-“Partners“ China?
Die Methode, mit gestifteten Monumentaldenkmälern Macht zu demonstrieren und kulturellen Einfluss auszuüben, verweist auf die totalitären Systeme und Kolonialimperien des 20. und 19. Jahrhunderts. Sie wirkt heute antiquiert, wie aus der Zeit gefallen. Dennoch hat Deutschland in diesem Jahr auch noch ein Lenindenkmal spendiert bekommen. Die marxistisch-leninistische Splitterpartei MLPD dekorierte den Vorplatz ihrer Zentrale in der Gelsenkirchener Innenstadt mit einer zwei Meter hohen silberglänzenden Statue. In gewisser Weise handelte es sich um eine recht preiswerte Lösung ohne künstlerische Neuschöpfung und ohne Wettbewerb – die Statue wurde aus alten Ostblockbeständen „reaktiviert“. Das Kalkül der MLPD, den sowjetischen Spender-Gestus zu imitieren – oder besser gesagt: zu parodieren – ging aber voll auf: Das Presseecho auf die Enthüllung war enorm. Die Kleinpartei wirkte wie ein Scheinriese.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.