Der Philosoph Michel Foucault hat – nicht als Erster, dafür mit weitreichenden Folgen – den Begriff des Archivs aus seiner ursprünglichen institutionellen Sphäre herausgelöst und einen Diskurs über „das“ Archiv als abstrakte Ordnungsstruktur bei der Organisation von Wissen eröffnet.
In der Folge Foucaults haben Philosophen, Kulturwissenschaftler, Medien- und Kunsttheoretiker weiter über „das Archiv“ nachgedacht und dabei die real existierenden Archive immer mehr aus dem Blick verloren. Dem Archiv werden nun merkwürdige Eigenschaften zugeschrieben: Es brennt (Georges Didi-Hubermann), es rumort (Wolfgang Ernst), man kann ihm verschrieben sein (Jacques Derrida) und es hat einen Geschmack (Arlette Farge). Neben der traditionellen Archivwissenschaft hat sich eine „Archiviologie“ entwickelt, für die – so Wolfgang Ernst – das Archiv zu einer „kulturtechnischen Universalmetapher“ avanciert sei, zu einer „diskursiven Begriffsmünze“, die „durch lauter Gebrauch bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen“ sei. Wohin diese Befreiung des Archivbegriffs „aus der eng archivwissenschaftlichen Umklammerung“ führen wird, ist nicht abzusehen.
Tatsächlich fällt es den in der archivischen Praxis stehenden Archivarinnen und Archivaren zunehmend schwer, diesen soziologisch-philosophischen Diskurs für die Bewältigung der ihnen gestellten Herausforderungen fruchtbar zu machen, die vor allem den Erhalt und die Bereitstellung des archivalischen Kulturguts betreffen. Dafür hat ihr – tatsächlich nur vordergründiger – Hang zum Gegenständlichen nicht wenig zu dem merkwürdigen Sonderling-Image beigetragen, das Archivare – und hier entspricht die Reduzierung auf die männliche Form dem literarischen Topos – in Literatur und Film haben.
Yuval Noah Harari hat in seinem grandiosen Werk „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ darauf hingewiesen, dass die Erfindung und Verwendung einer Schrift allein nicht genügte, damit eine untergegangene Zivilisation wenigstens in der Erinnerung der Nachwelt Bestand hat. Nur wenn diese Zivilisation auch Institutionen der Sicherung und Speicherung von schriftlichen Aufzeichnungen ausgebildet hat, kann ihre Kultur heute noch erforscht werden. Ob als babylonisches Tempelarchiv oder römisches Staatsarchiv: Archive trugen wesentlich zur Stabilität staatlicher Ordnungen bei und stellten so auch das spätere Erinnert-Werden sicher.
Diese Erkenntnis gilt heute unverändert fort. Die staatlichen Archive sichern Aufzeichnungen, die angefertigt wurden, um schriftlich auf Papier oder einem anderen Medium politisches und administratives Handeln zu dokumentieren. Diese Aufzeichnungen werden als „Gedächtnisstütze“ aufbewahrt; sie dienen immer zunächst einem sehr unmittelbaren, aktuellen Zweck der Kommunikation, Wissenssicherung und Rechtfertigung. Sie entstehen nicht, um im Interesse einer wissbegierigen Nachwelt archiviert zu werden.
Wenn der ursprüngliche Zweck der Aufzeichnung entfallen ist, gilt heute für staatliche Stellen die Verpflichtung, alle für die Administration verzichtbaren Unterlagen dem zuständigen Archiv anzubieten, dessen fachkundiges Personal für die Auswahl der dauerhaft zu erhaltenden Unterlagen, die konservatorische Sicherung, Digitalisierung und schließlich für die Bereitstellung zur Nutzung sorgt. Grundsätzlich handelt es sich dabei um unikales Archivgut, das nur in genau einem bestimmten Archiv überliefert wird.
Aber nicht nur der Staat, auch große Wirtschaftsunternehmen und wichtige gesellschaftliche Institutionen wie Kirchen, Parteien und Vereine unterhalten mittlerweile Archive. Wesentlich für die Beziehungen der Archive untereinander ist, dass sie nicht miteinander konkurrieren; da Archivgut buchstäblich einmalig ist, verhalten die mehr als 1.000 Archive in Deutschland sich komplementär zueinander. Und da macht es nichts, dass nicht alle Einrichtungen, die sich Archiv nennen, einer strengen, auf einer spezifischen Zuständigkeit basierenden Definition entsprechen. Zahlreiche Spezialsammlungen wie das Archiv für alternatives Schrifttum (afas) oder das Deutsche Tagebucharchiv dürfen ebenfalls für sich in Anspruch nehmen, unikales Archivgut zu sichern und damit Teil des nationalen Gedächtnisses zu sein.
Alle Archive sichern Archivgut mit dem Anspruch, die Originale so lange wie möglich, die Informationen aber möglichst unbegrenzt zu erhalten. Damit sichern sie Informationen, die selbst noch keine Erinnerung sind, die aber – gemäß den gesetzlich definierten Zugangsregeln – von jedermann genutzt werden können und so zur Grundlage historischen Erinnerns werden können; im Zeitalter der Information und des digitalen Wandels sind Archive Garanten der Volkssouveränität.
Was also ist ein Archiv? Ein Archiv, jedes Archiv ist ein Ort der Vergewisserung, die individuelle und kollektive Erinnerung möglich macht und damit eine wichtige Voraussetzung von Identität auf der Ebene der Person, der Familie sowie der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung darstellt. Und je leichter der Zugang zu seinem Archivgut ist, desto mehr wird ein Archiv diesem hohen Anspruch gerecht.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.