Aus dem Schatten treten

Archive sind zentrale Kulturorte

„Das kann ins Archiv“, damit wird ein Vorgang oft als abgeschlossen bezeichnet. Er wird nicht mehr aktuell benötigt, er kann abgelegt und für die Nachwelt bewahrt werden. Mit „das kann ins Archiv“ wird teilweise auch assoziiert, das wird nicht mehr gebraucht, dass kann weg!

 

Eine solche Beschreibung ist natürlich grundfalsch. Denn bei den Archivalien handelt es sich nicht um abgeschlossene Vorgänge im eigentlichen Sinn. Das Spannende an Archiven ist gerade, dass sie ermöglichen, die Vergangenheit immer wieder neu zu befragen und dies für die Gestaltung der Gegenwart fruchtbar zu machen. Archive sichern das Gedächtnis einer Stadt, einer Region, eines Landes, einer Nation, einer Religionsgemeinschaft, einer Bewegung und vieles andere mehr. Archivgut, das lange Zeit unberührt verwahrt wurde, kann plötzlich höchste Relevanz erhalten und Aufschluss über Entscheidungen, Entscheidungswege und Protagonisten geben. So manches Unverständliche erschließt sich durch die Auswertung von Archiven.
In Archiven werden Dokumente aufbewahrt, erschlossen und gesichert. Viele der Dokumente aus der Vergangenheit sind aus Papier. Hier besteht die große Aufgabe darin, diese Dokumente vor dem Verfall zu sichern. Dabei gilt es zu beachten, dass die Dokumente ursprünglich gerade nicht für das Archiv angelegt wurden, sondern dass mit ihnen gearbeitet wurde. Sie tragen daher Spuren der Benutzung, wurden hin und her gewendet, es wurde auf ihnen geschrieben, sie wurden versandt, abgeheftet, weitergegeben und so weiter. Archivalien atmen Geschichte. Und Archivalien sind Unikate. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied von Archiven zu Bibliotheken. Sicher, wissenschaftliche Bibliotheken bewahren auch Autografen und verfügen damit über Originale. Ohne Zweifel gibt es von einigen alten Büchern nur noch einige wenige Exemplare in Bibliotheken, dennoch richtet sich generell die Arbeit von Bibliotheken darauf, Medien zugänglich zu machen, wohingegen Archive Dokumente und Vorgänge bewahren und zugänglich machen. Ein Archiv zielt ebenso wie eine Bibliothek auf Benutzung. Archivgut ist zugänglich. Die Nutzung und Auswertung unterliegen allerdings Beschränkungen des Persönlichkeitsrechts.

 

Im Unterschied zu anderen Kultureinrichtungen wie Bibliotheken, Museen oder Theatern werben Archive jedoch nicht mit Ausstellungen oder Aufführungen um Publikum. Ihr Wert bemisst sich nicht darin, wie viel Öffentlichkeit sie erreichen, sondern wie gut und dauerhaft sie Dokumente sichern und erschließen. Archive befinden sich daher oft im Windschatten anderer Kultureinrichtungen. Selten, vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach oder anderen ausgewählten Archiven einmal abgesehen, wird über sie und ihre Arbeit in den Feuilletons berichtet. Gesehen und Wertschätzung erfährt die Archivarbeit besonders durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Aber auch Journalistinnen und Journalisten sowie Autorinnen und Autoren nutzen intensiv Archive. Sie wissen zu schätzen, was es bedeutet, entlegene Dokumente präsent zu haben oder auszugraben, um der wissenschaftlichen Argumentation oder der publizistischen Idee das entscheidende Argument zu geben oder eine These zu belegen.

 

Neben der Sicherung der Archivalien sind die Digitalisierung von Archivgut und die Langzeitarchivierung der Digitalisate weitere sehr große Herausforderungen. Hierfür sind entsprechende Investitionen erforderlich, die eben nicht nur das Bundesarchiv und die Landesarchive betreffen, sondern ebenso die kommunalen Archive sowie die Archive, die sich in Trägerschaft von Hochschulen, Kirchen, Stiftungen oder Vereinen befinden. Bei der Digitalisierung ist ferner zu beachten, dass es sich teilweise um Dokumente handelt, die Gebrauchsspuren tragen und deren Papier von minderer Qualität ist. Die Digitalisierung muss daher mit großer Sorgfalt betrieben werden. Archive finden ferner Wege, wie Dokumente, die ausschließlich digital existieren, bewahrt und künftigen Generationen zugänglich gemacht werden können.

 

Um die Digitalisierung weiter voranzutreiben, sind entsprechende Investitionen in die Infrastruktur sowie in das Personal dringend erforderlich. Dabei werden sehr unterschiedliche Qualifikationen benötigt: von Fachangestellten, die eine Ausbildung im Rahmen des dualen Ausbildungssystems absolviert haben, über exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den verschiedenen Disziplinen bis hin zu EDV-Expertinnen und -Experten, die technisch versiert sind, unterschiedliche Programmiersprachen beherrschen und Ideen entwickeln, wie die Digitalisierung vorangetrieben werden kann.

 

Archivarinnen und Archivare sind aber nicht nur Spezialistinnen und Spezialisten für das Bewahren, sie sind es ebenso für das Wegwerfen. Archive folgen einer strikten Logik, was die Bewahrung von Dokumenten betrifft. Daher braucht es die Expertinnen und Experten, die die Dokumente zuordnen, einordnen und über Findbücher – egal ob papiern oder digital – zugänglich machen. Dazu gehört auch, Vorgänge einzuordnen und sie eben nur einmal aufzubewahren. Archivarinnen und Archivaren kommt dabei eine große Verantwortung zu.

 

Archiv ist nicht Archiv

 

Die Archivlandschaft ist groß und vielfältig. Sie reicht vom Bundesarchiv mit neun verschiedenen Standorten über Landesarchive, kommunale Archive, wissenschaftliche Spezialarchive, Kirchenarchive bis hin zu Spezialarchiven mit einem eng umgrenzten Sammlungsgebiet. Diverse Archive sind aus bürgerschaftlichem Engagement entstanden. In einigen werden Dokumente, Flugblätter, sogenannte Graue Literatur und anderes mehr aus den neuen sozialen Bewegungen, die in den 1970er Jahren entstanden sind, gesammelt. In vielen dieser Archive wird unter prekären Bedingungen gearbeitet. Die Finanzierung der Arbeit ist unsicher. Es wird sich von Projekt zu Projekt gehangelt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern können kaum Perspektiven eröffnet werden. Es gehört ordentlich Überzeugung und Liebe zur Sache dazu, unter solchen Bedingungen am Ball zu bleiben. Diese Archive bedürfen mehr Aufmerksamkeit und vor allem mehr Ressourcen, damit sie nicht mit dem Ruhestand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgegeben werden müssen.
Archive leben von Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit, nur dann können sie ihr Versprechen der langfristigen Zugänglichmachung der ihnen anvertrauten Dokumente und Materialien einlösen. Damit dies gelingt, ist eine Archivinitiative vonnöten, damit der Satz „das kann ins Archiv“ keine Plattitüde ist, sondern mit der Zusicherung der Aufbewahrung verbunden wird.

 

Archive sind zentrale Kulturorte. Sie dürfen nicht weiter im Schatten anderer wichtiger Kulturorte stehen. Um ein wenig mehr Licht in oft unbekannte Archivwelten zu bringen, haben wir diesen Schwerpunkt in Politik & Kultur in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv konzipiert.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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