„Wir müssen zeigen, was ist“

Die Aufgabe des Journalismus in der Integrationsgesellschaft

 

Wie sollten die unabhängigen Medien mit denjenigen umgehen, die diese Spaltung vorantreiben?
Ich denke, Sie sprechen den Umgang mit der AfD an. Das ist eine Partei, die so tut, als stehe sie für die bürgerliche Mehrheit. Was nicht stimmt, sie ist einfach nur sehr laut. Leider gibt es noch kein Patentrezept für den Umgang mit diesen Populisten. Diese klare Strategie fehlt aber nicht nur bei uns in Deutschland, sondern in allen europäischen Gesellschaften. Wir sind mit WDRforyou Teil der Tagesschau-Redaktion, ich moderiere den Weltspiegel und kommentiere ab und an in den Tagesthemen – und ich erfahre überall, wie wir Redakteure um diesen richtigen Umgang ringen. Mal gelingt er, mal nicht. Die entscheidende Frage lautet: Wie finden wir einen sachlich-korrekten Umgang, der nicht vor Ideologie überschäumt? Das ist nicht einfach.

 

Wie sieht das bei Berichten über Migrationsthemen aus?
Ich bemühe mich, ein Bild der Wirklichkeit darzustellen, in dem sich sowohl die Menschen wiederfinden, die seit Generationen in dieser Republik leben, als auch diejenigen, die noch neu in diesem Land sind. Und ich versuche dabei einen Ton zu finden, der Spannungen nicht unter den Tisch kehrt, aber auch Dinge benennt, die gut sind und wo wir vorankommen.

 

Müssen die Medien als Arbeitgeber offener sein für Menschen mit Integrationsgeschichte?
Das wird sich langfristig sowieso ergeben, weil die deutsche Gesellschaft diverser wird und sich das irgendwann auf alle Bereiche auswirkt. Gut, vielleicht könnte es hier und da mit der Vielfalt etwas schneller vorangehen. Der WDR ist da seit fast 20 Jahren ziemlich aktiv. Was ich natürlich gut finde.

 

Wo erkennen Sie heute schon eine größere Vielfalt, vielleicht sogar eine Vorbildfunktion?
Kultur und Sport. (überlegt) Und bestimmte Teile der digitalen Wirtschaft leben eine ganz normale Vielfalt. Ich weiß von Firmen, in denen 80 Prozent der Mitarbeiter Besitzer einer Blue Card sind und aus dem Iran, Serbien und Indien kommen. Da sind nur noch die Alten deutsch. Was die Integration über die Arbeit betrifft, läuft es dort gut.

 

Bei WDRforyou gibt es vergleichsweise wenige Sport-Inhalte; warum?
Als wir anfingen, haben wir Spiele aus der Europa League live auf unserer Online-Seite mit arabischem Kommentar gestreamt, dazu gab es ein paar Sportgeschichten auf Persisch. Leider hat das kaum jemand geschaut. Trotzdem gebe ich Ihnen recht: Da könnten wir mehr machen.

 

Glauben Sie, dass die Identifikation mit einem Sportverein beim Integrationsprozess hilft?
Andersherum: Wir motivieren unser Publikum, als Aktive oder Aktiver zu einem Verein zu gehen. Die Frage, die uns am häufigsten gestellt wird, lautet: Wie finde ich Freunde? Das ist ein ganz großes Thema für Menschen, die hier angekommen sind und sich fragen, wie sie Anschluss an diese Gesellschaft finden. In diesem Zusammenhang bieten Sportvereine, wie es sie in Deutschland gibt, sehr gute Chancen.

 

Gibt es im arabischen Raum eine ansatzweise vergleichbare Vereinskultur?
Nein. Ich kenne es eigentlich nur aus Ägypten, und da sind Vereine nur etwas für die Upper class. Die deutschen Vereine hingegen sind echte Integrationsmaschinen.

 

Wird ihr Potenzial als Integrationsmaschine genügend genutzt?
Ein Kollege, der viel mit Flüchtlingen arbeitet, hat mir etwas erklärt, was mir überhaupt nicht bewusst war: Viele Erwachsene, die neu in Deutschland sind, trauen sich zunächst nicht in die Sportvereine. Aus Angst, angesprochen zu werden und nicht zu wissen, was man von ihnen will und wie sie reagieren sollen. Kinder und Jugendliche haben damit weniger Probleme, aber Erwachsenen fehlt häufig der Mut. Ins Fitnessstudio zu gehen, das funktioniere, aber bei einem organisierten Verein, in dem es auch auf das Interagieren ankommt, bestehe eine Hemmschwelle. Darum ist die Arbeit der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer so wichtig, sie geben Sicherheit und nehmen die Rolle eines Bindeglieds wahr. In diesem Fall zwischen Flüchtling und Sportverein.

 

Ihr Vater kam in den 1950er -Jahren aus dem Iran nach Deutschland, Sie sind in Essen geboren, Ihre Mutter ist Deutsche. Fühlen Sie sich immer und überall gleich deutsch?
Nein. Als ich zum Beispiel in Chemnitz war, bei der Demo und den folgenden Ausschreitungen, da habe ich mich überhaupt nicht mehr als Deutsche gefühlt. Da hat mir einer gesagt, ich solle zurück in den Iran gehen. Das war aber schon als Kind so: Wie deutsch ich mich fühle, hängt immer von der jeweiligen Situation ab, das verläuft komplementär zum Ort, an dem ich mich gerade aufhalte.

 

Sie haben Kontakt zu einem Pegida-Demonstranten, dem Sie damals in Chemnitz begegnet sind. Wie rege ist dieser Austausch?
Manchmal rufe ich ihn an und erkundige mich danach, wie er diese oder jene Entwicklung sieht.

 

Was bringt Ihnen dieser Kontakt?
Durch ihn erfahre ich etwas aus einer anderen sozialen Blase, mit der ich in meinem sonstigen Leben nichts zu tun habe. Ich finde es interessant, diese andere Sicht auf die Welt und die Ereignisse zu hören.

 

Fühlten Sie Unbehagen, als Sie ihm erstmals in Chemnitz begegnet sind, bei den Ereignissen Ende August 2018?
Da hatte ich am Anfang auch Angst. Wir sind damals dorthin gefahren, weil uns unsere Nutzer geschrieben haben, sie würden sich nicht mehr aus dem Haus trauen, sich auch nicht mehr trauen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Verständlich, denn woher sollten sie das Vertrauen haben, dass solche Ereignisse lokal begrenzt bleiben? Also mussten wir nach Chemnitz, um zu berichten, was da los ist. Und wir haben erlebt, dass diese Angst definitiv gerechtfertigt war. Sicher waren nicht nur Nazis auf der Straße, aber eben auch, zum Beispiel aus der Chemnitzer Fußballszene.

 

Darüber dann zu berichten und das zu zeigen: Erhöht man dadurch nicht die Angst?
Diese Frage haben wir uns auch gestellt, was aber wäre die Alternative gewesen? Es nicht zu zeigen?

 

Eine ähnliche Frage stellt sich auch in der Sportberichterstattung, wenn in einem Stadion homophobe, ausländerfeindliche oder antisemitische Parolen gebrüllt werden.
Wir erfüllen als Medium an dieser Stelle keinen pädagogischen Auftrag. Wir zeigen, erklären und ordnen ein, was Teil unseres Programmauftrags ist. Auch hier ist die Sicht der Leute interessant, die neu in diesem Land sind: Ich hatte bei dem berüchtigten Trauermarsch einen jungen Kollegen aus Syrien dabei, der in Chemnitz studiert. Wir standen ein paar Minuten lang in der kritischen Zone, links von uns die Wasserwerfer der Polizei, rechts der Trauerzug mit Höcke und Co. an der Spitze. Die Situation war extrem angespannt, und ich hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber dem neuen Kollegen. Also fragte ich ihn: „Wie geht es dir, was denkst du?“ Und er sagte: „Ich bin neidisch.“ Ich fragte verwundert: „Warum denn das?“ Und er antwortete: „Schau mal, es gibt hier so viele Polizisten, die so viel Geld kosten – und das alles, um die freie Meinungsäußerung zu sichern.“ Da war er wieder, der komplett andere Blickwinkel von Menschen, die ein neuer Teil dieser Gesellschaft sind.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019.

Isabel Schayani und André Boße
Isabel Schayani ist Journalistin und verantwortlich für WDRforyou. André Boße ist Journalist.
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