„Wir müssen zeigen, was ist“

Die Aufgabe des Journalismus in der Integrationsgesellschaft

Deutschland verändert sich, Deutschland wird vielfältiger. Was bedeutet das für die Gesellschaft und auch für den Journalismus? André Boße spricht mit der TV-Moderatorin und WDRforyou-Verantwortlichen Isabel Schayani über die Aufgabe von Journalismus, die Rolle von Sport für Integration und mehr.

 

André Boße: Frau Schayani, Sie leiten das Online-Angebot WDRforyou für Geflüchtete. Dort gibt es eine Rubrik, in der Menschen, die neu in der Bundesrepublik sind, berichten, was sie an diesem Land erstaunt. Wann haben Sie zuletzt über die Deutschen gestaunt?

Isabel Schayani: Ich habe über ein Projekt gestaunt, bei dem sich Menschen aus einer katholischen Kirchengemeinde aus dem Erzbistum Köln zusammentun und Flüchtlinge aus dem Ausland hierherholen. Die Gruppe übernimmt die Verantwortung, zahlt die Kaltmiete und begleitet diese Personen. In Ländern wie Kanada und Australien gibt es solche Projekte schon, in Deutschland handelt es sich meines Wissens um das erste dieser Art.

 

Und was erstaunt Sie so sehr daran?
Dass ein Teil der deutschen Zivilgesellschaft so weit ist, dass er sich selbst organisiert und verbindlich dafür sorgt, dass ein Mensch auf sicherem und vor allem legalem Weg mit dem UNHCR, dem Flüchtlingswerk der UN, in dieses Land kommen kann. Nicht mithilfe von Schleppern und auch nicht über die Balkanroute. Und ich staune auch, dass der Staat diese Migration zulässt – an einer Stelle, wo er ja staatliche Hoheitsrechte ausübt.

 

Kritiker sprechen vom Kontrollverlust des Staates.
An manchen Orten war das auch so, aber gleichzeitig ist die Zivilgesellschaft erwacht: Viele Menschen in Deutschland haben 2015 Herzen und Hände wieder ausgegraben.

 

Wie beurteilen Sie aktuell den Diskurs über das Thema Flüchtlinge und Integration in Deutschland?
Schauen wir noch einmal kritisch zurück: 2015 waren wir zunächst alle, wie Pro-Asyl- oder Amnesty-TV, total positiv und euphorisch und überwältigt von unserer eigenen Reaktion. Dann kam die Silvesternacht in Köln – und die Stimmung schlug um. Seitdem hat ein Prozess begonnen, in dem die öffentliche Meinung um Ausgewogenheit ringt. Trotzdem kann das Pendel unangenehm weit ausschlagen, wie wir bei dem Vorfall am Frankfurter Hauptbahnhof Ende Juli gesehen haben, als viele Panik zeigten, weil der in der Schweiz lebende Täter ursprünglich aus Eritrea kam. Generell ist es aber okay und sogar wichtig, wenn das Thema Integration nicht nur als schön wahrgenommen wird. Was mich jedoch stört, ist erstens die in großen Teilen pessimistische Grundhaltung und zweitens beinahe eine Ignoranz gegenüber dem, was die deutsche Zivilgesellschaft seit 2015 geleistet hat.

 

Sie haben einmal gesagt, Journalismus sei eine Form von Demokratievermittlung. Wie demokratiewirksam sind unabhängige Medien?
Gesagt habe ich das im Zusammenhang mit dem, was wir hier bei WDRforyou machen. Das ist ein Medienangebot für Geflüchtete in vier Sprachen, mit dem wir zum Beispiel erklären, was ist eine Wahl, was ist eine Koalition? Denn die Frage liegt ja auf der Hand: Warum gewinnt eine Partei eine Wahl, muss sich aber die Macht mit anderen Parteien teilen? Wir erklären die Presse- und Meinungsfreiheit, zeigen auf, dass man Politiker kritisieren kann, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen. Wir vermitteln also das, was unsere Demokratie auszeichnet – und zwar für ein Publikum, das aus ganz anderen politischen Systemen in unser Land gekommen ist.

 

Sprich: Sie machen Bildung. Wäre das nicht eher die Aufgabe von Bildungseinrichtungen?
Als öffentlich-rechtliches Medium vermitteln wir ein Verständnis für Demokratie, wenn wir in der Tagesschau über die Entwicklungen in Großbritannien, Italien oder den USA berichten – also darüber, wie sich Demokratie in der Wirklichkeit darstellt und wie sie sich wandelt. Wenn wir wollen, dass die Menschen, die sich bei uns integrieren, bei der Gestaltung unserer Demokratie halbwegs auf Augenhöhe mitreden und mitmachen, dann müssen wir ihnen die wesentlichen Informationen liefern. Ohne dieses Wissen um die Struktur unserer Demokratie ist es kaum möglich, Zeitungsberichte oder die Nachrichten zu verstehen. Nennen wir es: Demokratievermittlung.

 

Ist die Gesellschaft beim Thema Integration zu ungeduldig?
Ich glaube, viele Deutsche machen sich tatsächlich ein zu einfaches Bild von dem, was Integration bedeutet. Gerade in Deutschland ist die Vorstellung verbreitet, dass Integration mittels eines sechsgliedrigen Pamphlets gelingt, das man als Flüchtling beim Amt bekommt: Durchlesen – und du bist integriert. Aber klar, so läuft es nicht. Integration ist ein Prozess, der über einen langen Zeitraum verläuft. Vielleicht gelingt es auch, den Otto-Normal-Deutschen die Komplexität der Integration zu zeigen. Mit dem Ziel, dass dadurch Fehler vermieden werden, die in früheren Generationen gemacht wurden, als Menschen ins Land kamen und die Deutschen als Signal aussendeten: „Ist ja schön, dass du jetzt bei uns bist – aber wann gehst du denn wieder?“

 

Gelingt es denn, Flüchtlinge durch Medieninformationen so sehr für die Demokratie zu begeistern, dass sie mitgestalten wollen?
Wir haben über ein paar unserer Neuen berichtet, die mittlerweile in Parteien eingetreten sind oder sich in ihrer Kommune engagieren. Es wäre aber vermessen, zu sagen, das liege allein an unserer Berichterstattung.

 

Nutzen Sie den Begriff Willkommenskultur noch?
Nein. Das Wort „Willkommen“ hat seine Unschuld verloren.

 

Ist es in der öffentlichen Diskussion kaputt gegangen?
Vielleicht, ja, wobei man sagen muss, dass „Willkommenskultur“ eine gewisse Art von Naivität inhärent war. Nehme ich „Willkommen“ ernst, hört sich das für mich so an, als dürfe jeder, der kommen will, auch bleiben. Aber so ist es natürlich nicht. Insofern gaukelt der Begriff etwas vor, das sich zwar im ersten Moment schön anhört, beim zweiten Hinschauen aber bar jeder Wirklichkeit ist und sich mit der rechtlichen Situation nicht vereinbaren lässt. Materiell schafft die deutsche Gesellschaft das, aber mental nicht. Erkennbar ist das unter anderem daran, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft derzeit spaltet.

 

Was lässt sich gegen die zunehmende gesellschaftliche Spaltung tun?
Ich denke, es ist wichtig, das, was 2015 passiert ist, als abgeschlossenes Ausnahme-Ereignis zu betrachten. Damit bringt man ein wenig Ruhe in die Debatte. Wobei das Recht auf Asyl natürlich weiterhin gelten muss. Sagen wir es so: Dass, was auf 2015 folgte, fand ich in Teilen großartig. Aber noch einmal bräuchte dieses Land eine solche Situation nicht.

 

Isabel Schayani und André Boße
Isabel Schayani ist Journalistin und verantwortlich für WDRforyou. André Boße ist Journalist.
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