Wächter der Demokratie

Rede zur Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration

In einem sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Vertraute Fremde“ lädt der Soziologe Armin Nassehi dazu ein, sich doch einmal vorzustellen, wie es wäre, wenn es das Fremde nicht gäbe. Was wäre, wenn wir Menschen uns untereinander nicht fremd, sondern transparent wären? Stellen Sie sich also einmal vor, ich könnte sehen, was Sie denken, während ich hier rede. Was wäre also, wenn uns der andere gänzlich bekannt und zugänglich wäre? Wäre es, wenn es das Fremde und Verborgene nicht gäbe, der Idealzustand, das Ende aller Konflikte, der Beginn einer versöhnten, authentischen Gemeinschaft?

 

Nassehi kommt zu dem Schluss: „Nein, es wäre die Hölle“. Er schreibt: „Es wäre die völlige Gleichschaltung der Menschen. Es wäre dies auch das Ende aller Innovation und Überraschung. Es wäre auch das Ende allen Denkens, denn damit eine solche Gesellschaft funktionieren könnte, müsste sie das, was in unseren Köpfen vorgeht, genauso einschränken wie das, was wir sagen“.

 

Doch so sehr wir auf das Fremde und Unbekannte angewiesen sind, so sehr es zu unserem Leben – auch unter Deutschen – gehört und ein soziales Miteinander schlechthin erst ermöglicht: Die Begegnung mit dem nicht Berechenbaren, nicht Kategorisierbaren, die Konfrontation mit anderen als den eigenen Lebensweisen und Weltanschauungen löst auch Ängste aus − und ein Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und klaren Regeln. Gerade deshalb erfordert das Fremde, erfordert Unbekanntes und Unterschiedliches – und zwar nicht nur im Kontext von Migration − Kommunikation. Gerade deshalb braucht jegliche Form von Vielfalt Verständigung. Nicht, um das Fremde aufzuheben, sondern, um es zu benennen, um uns darüber auszutauschen, wie wir trotz und gerade mit dem Fremden gut miteinander leben können. Wie das gelingen kann, haben die Mitglieder der Initiative kulturelle Integration vorbildlich gezeigt. Ich danke Ihnen und dem Deutschen Kulturrat ganz herzlich dafür. Es freut mich, dass ich die Arbeit unterstützen und die Initiative aus meinem Kulturetat finanzieren kann.

 

Im Verbund aus so unterschiedlichen Partnern wie Staat, Religionsgemeinschaften, Medien, Sozialpartnern und Migrantenverbänden ist es der Initia­tive kulturelle Integration gelungen, eine Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens neu auszuhandeln – sie dann auch mit Leben zu füllen und stetig mit neuen Impulsen, wie beispielsweise der heutigen Diskussion, zu bereichern. Mit ihren 15 Thesen hat die Initiative Kulturelle Integration ein Bekenntnis zur Weltoffenheit und Vielfalt formuliert und exemplarisch gezeigt, was in der These 6 festgehalten ist. Dort heißt es: „Eine demokratische Debatten- und Streitkultur trägt zur Entwicklung individueller und gesellschaftlicher Positionen bei. Kontroversen, die durch Zuhören und konstruktive Auseinandersetzung geprägt sind, leisten einen wichtigen Beitrag für das Zusammenleben.“

 

Auch die wichtige Rolle der Medien in diesem demokratischen Aushandlungsprozess wird in These 6 festgehalten. Medien können Fakten erklären, komplexe Zusammenhänge aufzeigen, zwischen verschiedenen Positionen vermitteln und Verständnis für unterschiedliche Ansichten schaffen. Sie können erheblich dazu beitragen, wie wir Fremdes und Unbekanntes einordnen und bewerten. Sie sind mit dafür verantwortlich, ob wir kulturelle Vielfalt in Deutschland als Bereicherung oder als Bedrohung, als einladend oder als spaltend wahrnehmen.

 

Es freut mich deshalb sehr, dass unter den 28 Mitgliedern der Initiative kulturelle Integration auch Vertreterinnen und Vertreter der Medien sind, die ein sichtbares Zeichen dafür setzen, dass sie ihre Verantwortung in diesem Verständigungsprozess ernst nehmen. Ich freue mich vor allem aber auch, dass mit der diesjährigen Tagung die Rolle der Medien überhaupt in den Blick genommen wird. Medien können den Finger in die Wunde legen, neue Perspektiven aufzeigen, zum Nachdenken, zur Auseinandersetzung anregen und ja, auch zum politischen Handeln zwingen. Kritischer Journalismus ist ein „Wächter“ der Demokratie und ein Mittler zwischen Positionen und Kulturen.

 

Doch wo sich die traditionellen Medien an der rasanten Taktung der Live-Ticker ausrichten müssen, wo sie sich im Aufbranden von Erregungswellen Aufmerksamkeit verschaffen müssen, wo sie angesichts neuer Wisch- und Klickgewohnheiten um Zeit und Konzentration ihrer Nutzer buhlen müssen, da werden Redakteure immer häufiger an der Schlagzahl ihrer Nachrichten, an Auflagen, Reichweiten und Quoten gemessen. Da wächst die Versuchung, zuweilen auf unangemessene Weise zuzuspitzen, zu verkürzen und populäre Themen und Ansichten zu wiederholen.

 

Doch gerade auf dem komplexen Themenfeld Zuwanderung, Migration und Zusammenhalt braucht es eine ausgewogene, differenzierte Berichterstattung. Gerade in einer digitalen Gesellschaft, in der in sozialen Medien gehetzt, gepöbelt und Hass gesät wird, sind Glaubwürdigkeit und Vertrauen in traditionelle Medien unverzichtbar. Gerade wo Algorithmen Filterblasen technisch verstärken, wo Bots und Trolle das Aufkommen von Echokammern und Abschottungstendenzen unterstützen, gerade da ist der Zugang zu einem medialen Themen- und Meinungsspektrum das beste Bollwerk gegen Populismus.

 

Das Netz bietet durch seine zahlreichen und verschiedenen Verbreitungswege ungeheure Chancen − „Chancen für Kommunikation und Sichtbarkeit von Vielfalt“, so ist es in These 6 formuliert. Es stellt aber auch den Journalismus und uns alle vor Herausforderungen, die nicht alleine mit gut gemeinten Appellen, die nicht nur mit dem Nachjustieren einiger weniger Stellschrauben gelöst werden können. Es stellt uns vor Herausforderungen, die gesamtgesellschaftliche Antworten verlangen.

 

Die Fragen, mit denen das Netz uns konfrontiert, erfordern zuallererst ein geschärftes Bewusstsein – insbesondere auch der Medienschaffenden selbst – für die Möglichkeiten und Fallstricke, für die Strategien und Dynamiken der digitalen Technologie.

 

Die Fragen, mit denen das Netz uns konfrontiert, erfordern dann auch ein gestärktes Verantwortungsbewusstsein, Problembewusstsein, gesundes Misstrauen – kurz: Sie erfordern mehr Medienkompetenz und Reflexionsvermögen der Nutzer, die ja nicht nur Empfänger, sondern auch Sender sind, die nicht nur Nachrichten konsumieren, sondern sie auch selbst im Netz produzieren und viral verbreiten. Auch sie gestalten den medialen Kommunikationsprozess, die Verständigung darüber, wie wir mit dem Fremden umgehen wollen. Und wie es der Philosoph und Architekt Georg Franck so treffend beobachtet hat, ist „das Bedienen von Ressentiments eine weit verbreitete Strategie geworden, um sich Aufmerksamkeit zu beschaffen“.

 

Die Fragen, die das Netz uns stellt, erfordern technologische und ökonomische Lösungen. Vor allem aber erfordern sie auch politische Antworten. Dazu gehört die Gestaltung fairer Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen, um Qualitätsjournalismus erhalten und finanzieren zu können. Dazu gehört aber auch eine Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter. Und ich bin froh, dass nach zähem Ringen um diese nötigen Anpassungen die Verabschiedung der Urheberrechtslinie gelungen ist − ein in der EU hart umkämpfter und wichtiger Erfolg, der die kulturelle und journalistische Vielfalt und eine lebendige Kultur- und Kreativwirtschaft in Europa stärkt.

 

Nicht zuletzt erfordern die Fragen, mit denen das Netz uns konfrontiert, öffentliche und breit geführte Debatten aller Akteure – Debatten, auf deren Grundlage gesamtgesellschaftliche – auch ethische – Antworten gefunden werden können. Debatten, wie sie bei der diesjährigen Jahrestagung der Ini­tiative kulturelle Integration geführt werden. Debatten, die um Antworten ringen, wie wir unsere Verständigungsprozesse und Kommunikationswege so gestalten können, dass das Leben mit dem noch Fremden, dass Zusammenhalt in Vielfalt gelingen kann.

 

Gelingende Kommunikation ist ebenso wie das Fremde eine Herausforderung. Aber, um noch einmal an Nassehis These vom Anfang anzuknüpfen: „Fremdheit ist (auch) der Mechanismus, der uns zum Denken bringt.“ Das Gleiche gilt auch für die Kommunikation.

 

Der Beitrag basiert auf der Eröff nungsrede der Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration zu „Integration, Demokratie und Medien“ am 3. September 2019 in Berlin.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019.


Monika Grütters
Monika Grütters, MdB ist Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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