Die Frage nach Bedingungen und Gefährdungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist nicht neu. Sie liegt der Etablierung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin zugrunde, die seit dem Übergang zum 20. Jahrhundert in ihren Gesellschaftsdiagnosen immer auch das Wechselspiel von Integration und Desintegration thematisiert hat. Gegenwärtig stellen wir die Frage unter Bedingungen einer umfassenden Globalisierung, die die immensen Unterschiede im Reichtum und die kulturelle Vielfalt zwischen Weltregionen, aber auch innerhalb einzelner Staaten sichtbar macht. Im Politischen beobachten wir eine tiefgreifende Krise der Sozialdemokratie, die als politisches Projekt seit jeher für Solidarität und den gesellschaftlichen Ausgleich über Klassengrenzen hinweg kämpfte; gleichzeitig erstarken rechtspopulistische Bewegungen, die ökonomische Konflikte mit Fragen der kulturellen Identität verrühren und in so simple wie spaltende Dichotomien von „Wir“ und „Die anderen“ übersetzen. Und als wären das nicht schon genug Herausforderungen, sieht sich die gesamte Menschheit der existenziellen Bedrohung eines Klimawandels gegenüber, der selbst im günstigen Falle nur mit drastischen Veränderungen unserer Lebensweise bewältigt werden kann.
Diese Herausforderungen wiederum sind nicht zu trennen von der Weltgesellschaft als „Mediengesellschaft“ – ohne Medien können wir die Welt außerhalb unseres alltäglichen lokalen Nahraums nicht wahrnehmen, ohne Medien können wir uns nicht über die Ziele und Wege gesellschaftlichen Wandels verständigen. Welche Rolle aber spielen Medien für Zusammenhalt oder auch sein Gegenteil? Die wesentliche Aufgabe und Leistung von Medien ist in dieser Hinsicht, dass sie Öffentlichkeit herstellen, also eine kollektiv wahrnehmbare Sphäre des Austauschs von Informationen und der wechselseitigen Bezugnahme. Eine funktionierende Medienöffentlichkeit schafft Räume des Zusammenhalt(en)s, die auf zwei verschiedenen Modi beruhen.
Erstens stellt Medienöffentlichkeit geteilte Weltsichten her. Man mag hier zuerst an den Nachrichtenjournalismus denken, über den wir erfahren, welche Themen von kollektiver Relevanz gerade auf der „gesellschaftlichen Tagesordnung“ stehen, welche Fakten bestimmten Entwicklungen zugrunde liegen und welche Vorstellungen verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu anstehenden Entscheidungen und Fragen haben. Doch die Leistung der Medien geht darüber hinaus – fiktionale Inhalte oder kulturelle Angebote wirken ebenfalls gesellschaftlich integrierend und synchronisierend, indem sie geteilte Werte, Normen und Rollenvorbilder kommunizieren und das kollektive Erinnern ermöglichen.
Zugleich vermitteln Medien uns aber auch einen Eindruck von der großen Vielfalt an Interessen, Zielen und handlungsleitenden Werten, die in ausdifferenzierten Gesellschaften existiert. Daher ist zweitens ein weiterer Modus des Zusammenhaltens gefragt: Gesellschaft hält zusammen, wenn sie Konflikte zähmt, also geregelt und produktiv austrägt, statt der reinen Macht der Stärkeren zu überlassen und keine Interessenausgleiche vorzusehen. Auch in dieser Hinsicht spielen Medien eine wichtige Rolle: Medienöffentlichkeit ist eben nicht nur „Synchronisator“, sondern auch Arena des Wettstreits um Unterstützung für kollektive Ziele und bindende Entscheidungen über die Wege ihrer Erreichung. Ein Ideal, an dem sich dieser Modus und die Leistung von Medienöffentlichkeit messen lassen kann, ist der herrschaftsfreie Diskurs, den Jürgen Habermas beschrieb: Es darf keine Zugangsbeschränkungen geben, der Austausch muss verständigungsorientiert sein und der Kraft des durch faktengestützten besseren Arguments folgen, statt sich von verdeckten strategischen Interessen leiten zu lassen.
Mehrere Jahrzehnte lang waren beide Modi eng an die publizistische Öffentlichkeit der Massenmedien, also der Print- und Rundfunkmedien gebunden. Doch mittlerweile haben digitale Technologien wesentliche Elemente des massenmedialen Paradigmas verändert. Insbesondere die sozialen Medien, also Netzwerk- und Videoplattformen, Weblogs und Microbloggingdienste, Messaging-Apps und Wikis senken deutlich die Hürden für das Erstellen, Verbreiten und Bearbeiten von Informationen aller Art. Zudem obliegt die Auswahl von Informationen und ihre Bündelung nicht mehr allein der Institution des professionell-redaktionell betriebenen Journalismus. Zum einen übernehmen die Nutzer selbst entsprechende Leistungen durch ihre individuellen Entscheidungen, bestimmten Quellen zu folgen oder Informationen an ihr eigenes Kontaktnetzwerk zu empfehlen. Zum anderen liegen den meisten sozialen Medien algorithmische Filter- und Empfehlungssysteme zugrunde, die auf Grundlage umfassender Datenbestände versprechen, ständig aktualisierte und persönlich relevante Informationspakete zu schnüren.
Die sozialen Medien verdrängen die publizistischen Massenmedien nicht, verändern aber das Umfeld, in dem diese operieren. Medienöffentlichkeit wandelt sich zu einer „integrierten Netzwerköffentlichkeit“, mit Konsequenzen für die oben skizzierten Modi des gesellschaftlichen Zusammenhalt(en)s. In Hinblick auf den Zusammenhalt durch geteilte Weltsichten ist zunächst zu konstatieren, dass die gesunkenen Hürden für das (Mit-)Teilen von Informationen aller Art auch die Menge und Vielfalt potenziell verfügbarer Informationen erhöht. Das wiederum macht es unwahrscheinlich, dass sich in den sozialen Medien ähnlich durchgreifend gesamtgesellschaftlich Themen setzen und Agenden synchronisieren lassen, wie wir es von den Massenmedien kennen. Deutlich größer sind aber die Chancen für themen-, interessen- oder lebensführungsspezifische Subgruppen, sich im Netz zu finden und auszutauschen.
Solange sich solche Gemeinschaften die Offenheit für Informationen und Ansichten jenseits des eigenen partikularen Interesses bewahren und solange es daneben publizistische Medien gibt, die Informationen nach breiter gesellschaftlicher Relevanz auswählen und möglichst objektiv aufbereiten, wäre der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht bedroht, sondern wohl eher gestärkt. Problematisch hingegen wird es, wenn sich größere Anteile der Bevölkerung nur noch auf das teils individuell, teils algorithmisch zusammengestellte personalisierte Informationsbouquet verlassen, das sie in den sozialen Medien vorfinden können – sei es, weil sie keinerlei Interesse an gesellschaftlich relevanten Themen haben, sei es, weil sie journalistischen Medienangeboten nicht vertrauen und sich stattdessen vorrangig aus „Alternativmedien“ unterschiedlicher Couleur informieren.
Von dort wiederum ist der Schritt nicht weit in die Echokammern von extremen politischen Ideologen, von Leugnern des menschengemachten Klimawandels, von Anhängern obskurer Verschwörungstheorien und anderer wissenschaftsfeindlicher Esoterik. Sie alle finden in den sozialen Medien ihre Nischen, in denen andere Ansichten und Argumente in aller Regel keinen Platz haben. Stattdessen bestärken sich dort Gleichgesinnte fortwährend in ihrer eigenen Meinung oder radikalisieren sich gar, was wiederum in Form von Hate Speech, also verunglimpfender, verhetzender, sexistischer oder rassistischer Äußerungen, in andere Bereiche überschwappt.
Diese Beispiele illustrieren somit auch, inwieweit soziale Medien den zweiten Modus des gesellschaftlichen Zusammenhalt(en)s, den zivilisiert ausgetragenen Konflikt, unterminieren können. Die Medienlogik der meisten Plattformen belohnt das Kurze, das Zugespitzte und das Polarisierende mit Likes, Retweets und algorithmisch generierten Empfehlungen. Das verhindert nicht zwingend den verständigungsorientierten Austausch von Argumenten, denn gute Debatten leben ja ebenfalls von pointierten Beiträgen, die den eigenen Standpunkt deutlich markieren. Doch zur Verständigung gehört auch das Nachfragen, das Abwägen, das aufeinander Zugehen – alles kommunikative Akte, die unter Bedingungen schriftlicher Mündlichkeit schwer umzusetzen scheinen.
Aus diesen Überlegungen lassen sich medienpolitische Forderungen ableiten: Die Einhegung, oder nüchterner: die Regulierung sozialer Medien ist auch deshalb wichtig, um gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden. So gilt es, die Betreiber sozialer Medien stärker in die Pflicht zu nehmen, die (delikate) Abwägung zwischen freier Meinungsäußerung und grenzüberschreitender Hassrede transparent und nachvollziehbar vorzunehmen. Zudem dürfen softwaretechnische Systeme nicht allein daraufhin optimiert sein, möglichst personalisierte Empfehlungen zu geben. Abgesehen vom oben angesprochenen Risiko, Menschen gewollt oder ungewollt in abgeschottete Informationsblasen zu führen, setzen Personalisierungssysteme auch ein möglichst umfassendes Verdaten aller Aktivitäten voraus. Dies wiederum erhöht die Gefahr, dass diese Datenprofile in Zukunft auch zu anderen Zwecken, etwa politisch motivierter Überwachung und Kontrolle genutzt werden.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019.