Arbeiterklasse – der Begriff ist für die meisten Menschen in Deutschland noch immer mit Industriearbeit verbunden. Dabei war die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte immer heterogen. Die Gewerkschaftsbewegung der Weimarer Republik war auch stark durch Angestelltenorganisationen geprägt. Und sie war immer auch eine Arbeiterinnenklasse. Eine der ältesten Vorläufergewerkschaften von ver.di war die Frauengewerkschaft der grafischen Hilfskräfte im Deutschen Kaiserreich.
Aber ohne Zweifel – heute verändert sich die Erwerbsstruktur rasant, in der Folge ist die Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse durch eine Vielzahl nebeneinander bestehender Identitäten geprägt. Das bis in die 1970er Jahre Westdeutschlands angenommene – auch damals nur teilweise zutreffende – „Normalarbeitsverhältnis“ – also des unbefristet und in Vollzeit beschäftigten, in der Regel männlichen (Industrie-)Arbeiters – ist zwar nicht verschwunden, aber längst nicht mehr dominant. Heute sind in Deutschland andere Formen der Erwerbstätigkeit und Beschäftigtengruppen verbreiteter. Die „neue“ Arbeiter- und Arbeiterinneninnenklasse ist vielfältiger: Diejenigen, die durch Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen (müssen), sind weiblicher und migrantischer, die Qualifikationsniveaus heterogener und die Erwerbsformen differenzierter – von Teilzeit über Kettenbefristungen, Minijobs und Leiharbeit bis hin zu Freiberuflichkeit und (Schein-)Selbständigkeit. Der Schwerpunkt der Tätigkeiten hat sich in die Dienstleistungsbranchen verlagert, dort sind inzwischen mehr als dreimal so viele Menschen beschäftigt wie im warenproduzierenden Gewerbe.
Ein Beispiel für die Verschiebungen ist das Sozial- und Gesundheitswesen, in dem heute 13 Prozent aller Erwerbstätigen beschäftigt sind, Tendenz steigend. Im Unterschied zur „klassischen“ Arbeit an Maschinen handelt es sich um Arbeit unmittelbar mit Menschen, z. B. um Kranken- und Altenpflege, Kindererziehung, Jugend- oder Behindertenhilfe. Und: 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen, je nach Bereich arbeiten zwischen 40 und 70 Prozent in Teilzeit. Sie tragen eine hohe Verantwortung für das Funktionieren der Gesellschaft – Gesundheit, Bildung, Erziehung, die Unterstützung Hilfsbedürftiger sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und essenziell für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, das hat uns die Pandemie in besonderer Schärfe vor Augen geführt. Die Arbeitsbedingungen allerdings passen bisher nicht zur gesellschaftlichen Bedeutung: Arbeitshetze, Personal- und Zeitmangel dominieren, auch die Bezahlung ist im Vergleich zur Industrie niedrig. Angesichts der geringen Wertschätzung und Bezahlung typischer „Frauenberufe“ ist die hohe weibliche Altersarmut in Deutschland wenig überraschend.
ver.di ist die Gewerkschaft der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen – und die der Frauen: Über 52 Prozent der ver.di-Mitglieder sind Frauen. Gemeinsam setzen wir uns für eine Aufwertung von Tätigkeiten ein, die überwiegend von Frauen erledigt werden. Auch wenn einiges zu tun bleibt: In den vergangenen Jahren konnte, auch durch Streiks, eine deutliche Aufwertung in vielen Bereichen durchgesetzt werden, so durch Entlastungstarifverträge in vielen Kliniken und Lohnerhöhungen für Erzieherinnen und Erzieher.
Eine andere bedeutsame Erwerbstätigengruppe sind die Soloselbständigen, zu denen auch viele Freischaffende im Kunst- und Kulturbereich zählen. Sie sind nicht ins gesetzliche Sozialversicherungssystem einbezogen und ganz überwiegend verbietet ihnen das Kartellrecht Tarifverträge als „unerlaubte Preisabsprachen“; das trifft insbesondere auf die große Zahl von Selbständigen zu, die nicht durch die Künstlersozialkasse und das Urhebervertragsrecht erfasst sind. Trotz des vielfach hohen Qualifikationsniveaus hat sich hier ein akademisches Prekariat herausgebildet – das Median-Nettoeinkommen liegt fast ein Drittel unter dem von abhängig Beschäftigten. Die Digitalisierung treibt zudem die sogenannte Plattformökonomie voran, die – insbesondere bei ortsgebundenen Tätigkeiten wie Kurierdiensten oder haushaltsnahen Dienstleistungen – durch Prekarisierung und nicht selten scheinselbständige Vertragsverhältnisse geprägt ist. So heterogen Arbeits- und Einkommensbedingungen von Soloselbständigen auch sind: ver.di ist mit 30.000 selbständigen Mitgliedern die größte Vertretung auch dieser Erwerbstätigen und setzt sich mit ihnen für substanzielle Verbesserungen ein: für angemessene Vergütungen, den Zugang zu bezahlbaren, solidarisch ausgestalteten sozialen Sicherungssystemen, eine Stärkung kollektivrechtlicher Regelungen und eine Beweislastumkehr bei möglicher Scheinselbständigkeit – dass also Arbeitgeber nachweisen müssen, dass keine Scheinselbständigkeit vorliegt. Und für digitale Zugangsrechte für Gewerkschaften, damit diese oft allein und an wechselnden Orten arbeitenden Erwerbstätigen überhaupt erreicht werden können.
Trotz aller Vielfältigkeit der „neuen“ Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse gilt auch für sie: Nur gemeinsam und mit einer starken Gewerkschaft können Interessen von Erwerbstätigen wirksam durchgesetzt werden.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.