Diesseits und jenseits des Tischkickers

Zwischen Tradition und Start-ups: Direkte und indirekte Kulturprogramme für Arbeitnehmende

Diese Funktion übernimmt auch der sagenumwobene Tischkicker, der – so die etwas verklärte volkstümliche Meinung – überall im jungen, kreativen IT-Business anzutreffen ist. Google-Sprecher Ralf Bremer kennt das Klischee: „Die Tischkicker gibt es bei uns tatsächlich. Aber sie allein machen nicht unsere Arbeitskultur aus.“ Vielmehr seien die Prinzipien von Begegnung, von flachen Hierarchien und vom Wohlfühlcharakter, dass alle sich gern an ihrem Arbeitsplatz aufhalten, überall anzutreffen. Obwohl sich Google in der Pandemie als IT-Unternehmen recht schnell mit virtuellen Konferenzen und Homeoffice gut zurechtgefunden habe, hätten alle bei Google schmerzlich die Vorzüge des Präsenzarbeitens vermisst. „Durch Corona hat unsere Kultur des Austauschs untereinander doch sehr gelitten“, fasst Bremer zusammen. Dabei dürfte Austausch generell für die Belegschaft enorm wichtig sein. In anderen Ländern hat Google Betriebsräte, bei Google Deutschland jedoch nicht. Auch das ist Googles Unternehmenskultur. Interessengruppen wiederum hat Google viele. Sie werden Employee Ressource Groups, abgekürzt ERGs, genannt. Auf Initiative der Mitarbeitenden schließen sich ERGs – in erster Linie natürlich über Internettools – zusammen, zum Thema Laufen, Fitness, Nachhaltigkeit oder auch Musik. In allen Büros von Google Deutschland gibt es eine sogenannte Culture-Club-ERG. Die ERGs erhalten vom Unternehmen ein jährliches Budget, womit die Mitarbeitenden Veranstaltungen durchführen können, z. B. dass man ab und zu gemeinsam ins Museum geht oder auch zu Sommer- oder Weihnachtsfeiern einlädt. Das stärkt die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden.

 

Erfreulich ist, dass sich auch so manche Start-ups in Kulturangelegenheiten für ihre Belegschaft einsetzen, obwohl sie als junge Unternehmen neu am Markt sind und sich deshalb extrem auf ihr Kerngeschäft zu fokussieren haben. Wobei der Kulturbegriff hier weiter zu fassen ist. Angebote zum Teambuilding stehen etwa an erster Stelle, wie Michael Wendt, seit 1. März 2021 Mitgeschäftsführer der 2015 gegründeten HRinstruments GmbH schildert. Der Münchner IT-Betrieb mit zehn Mitarbeitern entwickelt und betreut digitale Feedback-Tools für Unternehmen und Führungskräfte. Gelegentlich zieht sich die Belegschaft für ein Wochenende an einen separaten Seminarort zurück, wo gemeinsam gearbeitet, aber auch gewandert, Sport gemacht, gekocht und gegessen wird oder es werden beispielsweise am Abend Kulturangebote vor Ort wahrgenommen. „Die Kulturangebote sind bei uns ein ›Nice-to-have‹, aber sie stehen nicht unbedingt an erster Stelle“, sagt Michael Wendt. Ähnlich sieht es auch Mitgründerin Alice Martin von Dermanostic, einem 2019 gestarteten telemedizinischen Unternehmen. Über eine App können Patienten Fotos ihrer Hautveränderung hochladen und von Hautfachärzten Diagnose und Therapieempfehlung erhalten. Der Erfolg dieses Geschäftsmodells war überwältigend, allerdings fast zeitgleich mit Corona. „Wir wollten ein Kulturprojekt angehen, ein Benefizkonzert mit dem Musikkorps der Bundeswehr“, sagt Alice Martin: „Das hat bislang nicht geklappt, wird aber vielleicht als Online-Konzert realisiert.“ Für die Belegschaft wäre das ein schönes Signal, dass sich auch das junge Unternehmen kulturell und sozial engagiert.

 

Kulturangebote machen den Arbeitsplatz attraktiver. Ausschlaggebend für die Wahl des Arbeitsplatzes sind sie jedoch kaum. Wer einen Job bei einem Start-up antritt, landet dort, weil er von der innovativen Aufgabe überzeugt ist. Und weder bei Google noch bei Bayer oder BASF bewerben sich Menschen aus aller Welt, weil die Kulturangebote dort so verlockend wären. „Die Entscheidungen bei Bewerbungen und Einstellungsgesprächen hängen sicherlich von anderen greifbareren Faktoren ab“, meint Klaus Gasteiger von der BASF. Neue Mitarbeitende erhalten ein Willkommenspaket, das auch Hinweise auf die Kulturangebote enthält. Aber ansonsten klingt das kulturelle Engagement des Unternehmens im Arbeitsalltag eher als Selbstverständlichkeit mit. Bei Bayer gibt es übrigens, wie man auf Nachfrage erfährt, auch einen Tischkicker. „Der ist aus Karton, sehr nachhaltig“, sagt Thomas Helfrich: „Ich habe aber noch nie jemanden dran spielen sehen.“ Woran das nun liegt, weiß man nicht. Aber wahrscheinlich ist es mit so einem Tischkicker wie mit der Kultur überhaupt: Erst mal gut, dass sie da ist.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Sven Scherz-Schade
Sven Scherz-Schade ist freier Journalist in Karlsruhe und arbeitet unter anderem zu den Themen Kultur und Kulturpolitik für den Hörfunk SWR2.
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