„Die eine Arbeiterkultur hat es nie gegeben“

Reiner Hoffmann im Gespräch

Untrennbar mit Arbeit und insbesondere Arbeiterkultur verbunden sind seit jeher die Gewerkschaften. Hans Jessen spricht mit dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Reiner Hoffmann über Gewerkschaften als kulturelle Bewegung, die Ruhrfestspiele in Recklinghausen und eine zeitgemäße Arbeiterkultur.

 

Hans Jessen: Herr Hoffmann, sind Gewerkschaften heute noch Träger und Ausdruck von Arbeiterkultur? Wenn ja: Woran merken wir das?

Reiner Hoffmann: Die eine Arbeiterkultur hat es nie gegeben, sie hatte immer ganz unterschiedliche, vielfältige Facetten. Für die Gewerkschaften war Kultur stets eng verbunden mit Bildung, mit Emanzipation und mit einer solidarischen Gesellschaft.

Diese Verknüpfung sieht man bereits im 19. Jahrhundert, als die ersten Arbeiterbildungsvereine entstanden, später auch Arbeiterkulturvereine oder Gesangsvereine.

Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Vereine mit schillernden Namen wie „Onkel Bräsig“ oder „blaue Zwiebel“ gegründet. Dahinter verbargen sich Lese- und Diskutierklubs der Arbeiterbewegung, die aufgrund der politischen Verhältnisse nicht mehr öffentlich zusammenfinden konnten. Parallel entstanden erste Ansätze im Bühnenbereich, 1890 etwa die Gründung der „Volksbühne“. Historisch war Kultur also schon immer eng verzahnt mit Bildung und Emanzipation.

 

In der DGB-Satzung findet sich die knappe Formulierung: „Der Bund und die in ihm vereinigten Gewerkschaften vertreten die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer.“ Die Kultur taucht als Letztes auf und wird nicht näher definiert.

Die Reihenfolge ist nicht wertend zu sehen. Trotzdem lässt sie eine gewisse Priorisierung der Aufgaben des DGB erkennen und ist Ausdruck der Vielfalt zu vertretender Interessen. Das eine homogene Arbeitermilieu gibt es schon lange nicht mehr – wenn es das überhaupt je gab, dann vielleicht zu Beginn der Industrialisierung. Heute ist es hochgradig differenziert, gekennzeichnet durch plurale Lebensstile und Interessenvielfalt. Es sind letztlich auch Erfolge gewerkschaftlichen Handelns, wenn Kultur mit Emanzipation identifiziert werden kann. Emanzipation verträgt sich nicht mit starren Korsetts in feststehenden Begriffen von Kultur. Auch Kultur ist in diesem Kontext außerordentlich vielfältig.

 

In einem Text zum Kulturverständnis des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes ist zu lesen: „Gewerkschaften sind eine kulturelle Bewegung (…). Weil die Gewerkschaft kulturelle Ziele verfolgt, setzt sie auch kulturelle Mittel ein. Das Instrument dazu ist die gewerkschaftliche Kulturarbeit.“ Hat diese Formulierung, vor 40 Jahren geschrieben, eine aktuelle Gültigkeit auch für das deutsche gewerkschaftliche Kulturverständnis?

Absolut. Das würde ich so unterschreiben. Wir erleben das aus aktuellem Anlass. Auch wenn der 1. Mai dieses Jahr hauptsächlich digital stattfinden wird – dieser internationale Kampftag der Arbeiterbewegung ist historisch immer verbunden mit Kulturfesten, die um den 1. Mai herum organisiert werden. Da spielt wieder der Aspekt der Vielfalt eine große Rolle. Wir haben sehr unterschiedliche kulturelle Traditionen, die beispielsweise in der Integration nach Deutschland zugewanderter Kolleginnen und Kollegen deutlich werden. In den 1950er Jahren waren es türkische und italienische kulturelle Milieus, die mit den Zuwanderern kamen und Eingang gefunden haben. Das war und ist Ausdruck kultureller Vielfalt wie auch Ausdruck von Akzeptanz. In einer multikulturellen Gesellschaft, die wir zweifellos haben, ist diese Akzeptanz wiederum Bestandteil von Emanzipation. Die Anerkennung von Anderssein ist für die Gewerkschaftsbewegung sehr zentral.

 

Ich möchte eine konkrete Form gewerkschaftlicher Kulturarbeit ansprechen. Die Ruhrfestspiele in Recklinghausen werden in diesem Jahr 75. Sie gelten als das älteste Theaterfestival in Europa. Gesellschafter der Ruhrfestspiele sind die Stadt Recklinghausen und der DGB. Die Ruhrfestspiele entstanden 1947, weil Schauspieler sich bei Bergarbeitern bedanken wollten, die ihnen im Nachkriegswinter Kohlen verschafft hatten, damit sie ihr Theater heizen konnten. Es war eine originäre Form praktischer Solidarität. Wie viel davon steckt 75 Jahre später noch in den Ruhrfestspielen?

Wir werden sehen, wie dieses Jubiläum unter Pandemie-Bedingungen in teilweise hybriden Formen gefeiert werden kann, also in den Häusern und digital. Sehr passend hat der Intendant die diesjährigen Festspiele unter das Motto „Utopie und Unruhe“ gestellt. Das ist ein zutreffender Ansatz. Wir erleben in der Pandemie sehr viel Unruhe einerseits, auf der anderen Seite brauchen wir Visionen einer solidarischen Gesellschaft jenseits des Corona-Blues. Wir müssen die offensiv entwickeln: Sei es der Weg in eine decarbonisierte Wirtschaft oder in eine zunehmend digitale Arbeitswelt.

Der historische Ursprung der Ruhrfestspiele ist in der Tat bemerkenswert: Im eiskalten Winter sollten Theater in Hamburg geschlossen werden, da haben sich Schauspieler aus Hamburg auf den Weg ins Ruhrgebiet gemacht. Es war Zufall, dass sie an der Zeche „König Ludwig“ in Recklinghausen vorbeifuhren und mit Arbeitern ins Gespräch kamen. Die Schauspieler waren auf zwei LKW unterwegs, die wurden mit Kohlen befüllt. Unter den strengen Augen der britischen Militärpolizei durften sie passieren und konnten mit den Kohlen ihr Theater heizen. Im nächsten Sommer sind die Schauspieler dann wieder nach Recklinghausen gefahren und haben zum Dank für die Kumpels ihre Theaterstücke aufgeführt.

Der Gedanke dahinter war ein grundsätzlicher: Bühnenkunst nicht nur für die gesellschaftlichen Eliten. Im Kontrast etwa zu den bürgerlichen Festspielen in Salzburg gab es Arbeiterfestspiele in Recklinghausen. Ein Stück Gegenkultur. Das steckt auch heute noch drin.

In diesen Tagen werden die Preisträger des Wettbewerbs „Die gelbe Hand“ ausgezeichnet. Dahinter steckt eine Initiative, die vor 30 Jahren von der DGB-Jugend gestartet worden war, nach französischem Vorbild. Mit dem deutschen Slogan „mach meinen Kumpel nicht an“ war dies eine Initiative gegen Rassismus, den Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund erlebten. Sie sind Schirmherr dieses Wettbewerbs – ist das, als praktizierte Form von Solidarität, Ausdruck heutiger Arbeiterkultur?

Der Begriff „Arbeiterkultur“ wäre mir, wie schon angedeutet, zu eng gefasst. Aber es ist Ausdruck eines auch kulturellen Engagements. Die Wurzeln liegen in der französischen Initiative „SOS – racisme“, in der auch Gewerkschafter aktiv waren und sind. Die gelbe Hand symbolisiert ein Stopp-Zeichen, Abwehr rassistischer Übergriffigkeit, in Frankreich wie in Deutschland. In Zeiten eines erstarkenden Rechtsradikalismus ist der erkennbare und praktizierte Zusammenhang von kultu-reller und politischer Arbeit – wiederum als Ausdruck emanzipatorischer Freiheitsbewegung – gegen jegliche Form von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsnationalismus wichtig.

 

Ich möchte dennoch den Begriff „Arbeiterkultur“ als Ausdruck kollektiver Lebenszusammenhänge noch einmal verwenden. Zur Geschichte der Arbeiterklasse gehörte auch das Wohnen in Arbeiterquartieren. Elendig oft in den Anfängen, in der Weimarer Republik gab es Versuche menschenwürdiger Siedlungsformen für Arbeiter. Das schien sich in der Nachkriegszeit aufzulösen – mittlerweile ist aber die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum wieder weit vorn auf der gewerkschaftlichen Agenda. Ist Wohnen und Bauen auch ein kulturelles Thema?

Da gibt es durchaus Anknüpfungspunkte. In Berlin stehen noch Gewerkschaftshäuser aus den 1920er Jahren. Im Haus des „Metallarbeiterbundes“ ist eine Dauerausstellung zu sehen. Dieser Bau des bedeutenden Architekten Erich Mendelsohn war ein Aufbruch in die Moderne. Wenn man sich auf den Fotos anschaut, wie das frühere Umfeld dort aussah: Dieses Gewerkschaftshaus war ein Prachtbau, der Aufbruch signalisierte. Wie müsste heute ein digitales Gewerkschaftshaus aussehen, das einen Aufbruch in die vor uns liegende Moderne symbolisiert? Das ist eine spannende Frage.

Aufbruch heißt immer auch Zukunftsgestaltung. Das ist ein zentraler Aspekt jeglichen kulturellen Engagements: Es geht nicht nur um das Beklagen schwieriger sozialer Verhältnisse, auch wenn das ein wichtiges Thema ist. Es geht mehr noch um Perspektiven, Utopien, Visionen einer besseren Zukunft. Heute bedeutet das: bessere Zukunft in einer gesunden Umwelt, einer decarbonisierten Wirtschaft, neue Vereinbarkeit von Arbeit und Familie sowie mehr Zeitsouveränität in einer digitalen Welt. Zeit hat für Menschen immer eine kulturelle Dimension. Selbstbestimmte Verfügung über freie Zeit ist Kultur und gibt Raum für kulturelles Engagement.

 

Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka hat in einem Interview, das auch in dieser Ausgabe von Politik & Kultur erscheint, allerdings die Sorge geäußert, dass Digitalisierung von Arbeit, wie wir sie pandemiebedingt als Homeoffice beschleunigt erleben, auch ein kultureller Rückschritt sein könne: Rückführung von Arbeit ins häusliche Umfeld sei Verlust von Gesellschaftlichkeit. Er wundert sich, dass der DGB sich so für Homeoffice einsetzt. Sehen Sie diese Gefahr auch?

Dieses Risiko sehe ich auch. Wir sehen, dass die Pandemie zu Vereinzelung und Überforderung führt, auch zur Rückkehr zu klassischen Geschlechterrollen. Die Lasten der Pandemie im Homeoffice tragen vor allem die Frauen. Das ist ein Risiko. Aber: Das Recht auf Homeoffice ist keine Pflicht zu Homeoffice, und auch kein Dauerzustand. Es muss ein gesundes Mischungsverhältnis geben, in dem die Zeitsouveränität eine zentrale Rolle spielt.

Wenn man den Zusammenhang nimmt mit der vorherigen Frage nach bezahlbarem Wohnraum, mit den Wegezeiten zur Arbeit: Menschen sind heute ein- bis anderthalb Stunden im Auto oder in der Bahn, um den Arbeitsplatz zu erreichen, weil sie in Arbeitsplatznähe keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Da werden wir auch kulturell noch sehr viel weiter denken müssen. Die Verödung unserer Innenstädte ist ein kulturelles Desaster. Die Durchkapitalisierung der Gesellschaft wird auch daran deutlich, dass die brachliegenden Verkaufsflächen in den Innenstädten nicht genutzt werden, weil sie in der Regel großen Immobiliengesellschaften gehören, die Ladenmieten von 40 Euro pro Quadratmeter und mehr verlangen. Kommunen können solche Flächen nicht für alternative Nutzungen anmieten, weil die Immobilienhaie keine Wertverluste  hinnehmen wollen. Das zeigt die Komplexität solcher Zusammenhänge.

Und damit landen wir in gewisser Weise wieder beim Homeoffice, das in dieser Komplexität Risiken wie auch Chancen beinhaltet. Beides haben wir im Blick. Außerdem gibt es Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die gar nicht im Homeoffice arbeiten können – auch denen gilt unser Augenmerk. Die Pflege am Menschen ist nicht im Homeoffice möglich, auch werden wir keinen Stahl im Homeoffice produzieren, die Bahn lässt sich auch nicht nur von außen organisieren. Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu Spaltungen kommt zwischen Menschen mit Privilegien und solchen, die davon keinen Gebrauch machen können. Das wären soziale – aber eben auch kulturelle – Spaltungen, die wir verhindern müssen. Wir haben vor drei Jahren erstmals in einem Tarifvertrag der EVG die Wahloptionen Geld oder Zeit vereinbart. Zeitsouveränität wird in zukünftigen Tarifverhandlungen eine immer größere Rolle spielen. Die Herstellung von Lebenszusammenhängen ist auch eine kulturelle emanzipatorische Angelegenheit.

Homeoffice kann dabei eine Rolle spielen, ist aber kein Allheilmittel.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Reiner Hoffmann & Hans Jessen
Reiner Hoffmann ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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