Eine Zensur findet nicht statt. Oder?

Neue Herausforderungen an Art. 5 GG

Findet eine Zensur also wirklich nicht statt in der Bundesrepublik Deutschland? Wenn man im Sinne rechtswissenschaftlicher Lehrmeinung darunter tatsächlich nur staatliches Präventivhandeln versteht, lässt sich das mit ziemlich reinem Gewissen behaupten. Ganz rein kann dieses Gewissen allerdings nicht sein. Denn erstens stehen tatsächlich Grenzfälle wie die – nicht von staatlichem Einfluss unabhängige – FSK dem Zensurverbot entgegen. Und zweitens gibt es, wie Helmut K. J. Ridder schon 1996 in seinen »Bemerkungen eines Juristen zum Zensurproblem« kritisierte, in der Rechtspraxis eine starke Scheu vor Art. 5 GG. Sprich: Wenn etwas zensurähnlich aussieht, wird es gerne anders definiert, um die heikle Grundrechtsfrage gar nicht erst stellen zu müssen.

 

Trotz alledem – es ist aktuell nicht mehr der Staat, von dem in digitalen Zeiten die größten Gefahren für unsere Meinungsfreiheit ausgehen. Neue, nicht staatliche und dennoch umfassende und systematisch wirksame Kontrollmechanismen prägen unsere Kommunikation, insbesondere die Filtertechnologien von Facebook, Google, YouTube und Co., jenen Internetriesen, denen zuweilen selbst die Macht von Staaten zugesprochen wird. Genügt es daher noch, wenn das Zensurverbot des Grundgesetzes uns ausschließlich vor dem Staat schützt? Denn darin besteht ja eigentlich der ureigene Sinn der in ihm kodifizierten Grundrechte. Sie sind, so lautet ein Leitsatz aus dem erwähnten Lüth-Urteil, „in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“. Dieser Sinn scheint heute allerdings nicht mehr auszureichen, um die Meinungsfreiheit und damit die Grundlage jeder Demokratie zu wahren.

 

Soziale Netzwerke, die für ihre Inhalte nicht haften und via Geschäftsordnung eine Art Privatrecht für Milliarden Menschen schaffen, lenken durch Selektion, Platzierung, Löschung von Information massiv globale Kommunikationsprozesse. Sie generieren Meinungsblasen und wirken auf vielfältige Weise zensuranalog. Daher denken nicht nur Juristen gegenwärtig darüber nach, wie der zunehmenden Manipulation der öffentlichen Kommunikation in sozialen Netzwerken begegnet werden kann. „Wir müssen den Zensurbegriff neu denken!“, fordert der Medienrechtler Murad Erdemir im JMS-Report 5/2018. Er hat recht. Sonst droht das Grundgesetz zum zwar immer noch wunderschönen, aber zahnlosen Tiger zu werden. Es muss darum gehen, ob das Zensurverbot aus Art. 5 GG wirklich nur die staatliche Kontrolle betrifft oder auch im Sinne einer Drittwirkung Ausstrahlung auf privatwirtschaftliche Unternehmen haben kann. Hat der Staat nicht sogar eine Schutzpflicht und muss unser Grundrecht auf Meinungsfreiheit vor der digitalen Manipulation schützen? Momentan tendiert er bekanntlich eher umgekehrt dahin, die Internetanbieter per Gesetz – ich meine das umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz – zum „großen Löschen“ zu animieren und sich auf diese Weise die Hände selbst nicht schmutzig zu machen am Grundgesetz.

 

Das kann übrigens so bleiben, wie es ist – inklusive Art. 5 GG: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Nur die Frage danach, was Zensur bedeutet, müssen wir neu beantworten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

Nikola Roßbach
Nikola Roßbach lehrt neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Kassel.
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