Es gibt einiges, für das ich mich als Deutsche schäme. Auch wenn es vor meiner Geburt geschehen ist. Vor allem für die NS-Kriegsverbrechen, für Verfolgung und Massenmord von Millionen Menschen. Kollektivschuld lässt sich für mich nicht wegdiskutieren, höchstens vielleicht produktiv wenden: in demutsvolle Erinnerungsarbeit, in politische Sensibilität – damit so etwas nie wieder geschieht etc. Es gibt aber auch einiges, auf das ich als Deutsche stolz bin. Auch wenn es vor meiner Geburt geschehen ist. Dazu gehört das Grundgesetz. Welch eine Leistung der Mütter und Väter der Bundesrepublik. Welch ein Bollwerk der Rechtsstaatlichkeit, welch ein Erfolgsmodell der Demokratie. Eine seiner ganz besonderen Leistungen ist die Kodifizierung zentraler Grundrechte. Eine solche Kodifizierung, vor allem des Rechts auf Meinungsfreiheit, wurde 1849 in der Paulskirchenverfassung schon einmal versucht, bekanntlich ohne nachhaltigen Erfolg.
Die Grundrechte, die unser Grundgesetz festschreibt, gelten für alle, unmittelbar und absolut. Sie sind nicht verhandelbar, sie können nicht gegen andere Verfassungsgüter aufgewogen werden. Es steht gar nicht zur Debatte, ob z. B. die Würde des Menschen – siehe Art. 1 GG – in speziellen Fällen nicht vielleicht doch antastbar ist. Wohl aber kann man darüber debattieren, was „Würde“ überhaupt bedeutet, was ein „Mensch“ ist oder was „antasten“ hier eigentlich heißt. Und vor allem darüber, wie das alles praktisch umzusetzen ist. Solche Debatten gehören in das weite Feld der Rechtsauslegung.
Absolut gültig und dennoch deutungsoffen: So präsentiert sich demnach auch Art. 5 GG. Sein erster Absatz lautet: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Die hier festgeschriebene Meinungsfreiheit gilt als Bedingung jeder Demokratie. Im berühmten Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 1958 wird sie als „eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“ bezeichnet: „Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.“
Und was lässt sich daran nun herumdeuteln? Ob Zensur vielleicht doch manchmal okay ist? Nein, darüber kann es auch hier keine Diskussion geben. Wohl aber darüber, was Zensur eigentlich ist. Und das ist alles andere als eindeutig. Manche verstehen darunter ganz strikt ein staatliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, andere wiederum so ungefähr jede Form von gesellschaftlicher Kommunikationslenkung. Dass eine solche Begriffsvagheit durchaus Hintertüren öffnen kann, um problematische Formen von Kommunikationskontrolle auch hierzulande zu ermöglichen, liegt nahe. Und darum ist es auch gar nicht einfach zu entscheiden, ob manche Phänomene in unserem bundesdeutschen Alltag nicht vielleicht doch Zensur darstellen. Z. B. die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die einige Medienrechtler, gerade hinsichtlich der Prüfung von „Erwachsenenfilmen“, als ernst zu nehmende Form von Zensur kritisieren. Nicht ernst zu nehmen ist hingegen der momentan allgegenwärtige Zensurvorwurf von rechtspopulistischer Seite, sekundiert von einem notorischen „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“, mit dem jedwede Kritik an sprachlicher Gewalt und Hetze pariert wird.
Aber was ist mit dem Verbot von Büchern, dem Übermalen von Gedichten, dem Abhängen von Bildern, wie es aktuell immer wieder vorkommt und im Feuilleton als kultureller Aufreger diskutiert wird? Ist das nun Zensur oder nicht? Skandalisierung hilft hier nicht weiter, eher der Blick aufs Detail. Ein öffentlicher Gerichtsprozess um einen Roman wie Maxim Billers „Esra“ von 2003, in dem Rechtsgüter wie Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht gegeneinander abgewogen werden, ist keine Zensur, auch wenn man die richterliche Entscheidung als Fehlurteil zum Schaden der Kunstfreiheit bezeichnen und vor einer möglichen Präzedenzwirkung auf den Buchmarkt warnen darf. Ebenso wenig handelt es sich um Zensur, wenn, wie an der Berliner Alice Salomon Hochschule jüngst passiert, ein Hochschulgremium in einem demokratischen Aushandlungsprozess entscheidet, ein frei zugängliches Gedicht, Eugen Gomringers „avenidas“, an der eigenen Fassade zu übermalen. Natürlich kann man auch das kritisieren. Die Angriffe der Kulturelite gegen die „ungebildeten“ Fachhochschul-Studierenden, bei denen Vergleiche zu den Bücherverbrennungen der Nazis gezogen wurden, wirkten jedoch recht überzogen. Und schließlich: Wieso sollte es Zensur sein, wenn ein Museum ein Bild mit nackten Frauen abhängt, um eine MeToo-inspirierte Diskussion über Geschlechterpolitik anzuregen? So letztes Jahr geschehen mit John William Waterhouses „Hylas und die Nymphen“ von 1896 in der Manchester Art Gallery. Ich persönlich sehe solche aktualisierenden Zugriffe auf die Kunst- und Literaturgeschichte übrigens kritisch. Sogar ein abgedrehter alter viktorianischer Perversling dürfe Softporno-Nymphen malen, schrieb der britische Journalist Jonathan Jones. Recht hat er. Was nicht heißt, dass man darüber nicht streiten dürfte und müsste.
In keinem dieser Fälle wird das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit angetastet. Doch auch wenn wir weit entfernt sind von Zensur bei diesen aktuellen Kulturdebatten um Sagbarkeitsgrenzen: Wachsam bleiben müssen wir schon. Geschichte und Gegenwart lehren uns, dass sich derartige Grenzen auch in Demokratien unmerklich verschieben können. Ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess kann zu veränderter Rechtsauslegung, sogar zu Gesetzesänderungen führen – und im schlimmsten Fall die Meinungsfreiheit bedrohen. Wer weiß, ob Putten im Vorgarten nicht irgendwann verboten sein werden, wenn wir nicht aufpassen.