Der Exodus der Leser

Die Buchbranche kämpft mit der verschärften Medienkonkurrenz

Buchmarkt hat Millionen Buchkäufer verloren
Viel versucht, einiges geschafft, aber noch immer zu wenig erreicht – so lautet bei allen positiven Trends jedoch das Fazit der vielen Umbauten und Experimente, mit denen die Buchbranche versucht hat, sich in der digitalen Transformation zu behaupten. Denn: Einige Monate, bevor der Börsenverein Mitte 2017 den Markt mit der eingangs zitierten Wendung „Stabilität im Wandel“ und „erfolgreich in der digitalen Transformation“ charakterisierte, mehrten sich die Anzeichen, dass der Buchmarkt doch nicht so gesund ist wie gehofft. „Wir haben mehrere Millionen Käufer verloren“ – was Joerg Pfuhl, CEO der deutschen Holtzbrinck-Buchverlage, schon kurz nach seinem Antritt Ende 2016 in der Fachzeitschrift Buchreport formulierte, wurde bald darauf in einer Studie des Börsenvereins und des Marktforschungsinstituts GfK untermauert. Erkenntnisse, die noch immer für allerlei Verstörung in der Branche sorgen, sind:

 

  • Zwar war der Markt trotz großer Medienkonkurrenz umsatzseitig in den letzten 15 Jahren weitgehend stabil geblieben. Diese positive Bilanz wurde aber weitestgehend durch Preissteigerungen der Verlage erreicht – tatsächlich wurden 2017 im siebten Jahr in Folge weniger Bücher verkauft.
  • Während der Buchmarkt die Umsätze gerade einmal stabil halten konnte, haben die Games-, Video- und Kinobranche deutlich dazu gewonnen.
  • Besonders dramatisch: Zwischen 2013 und 2017 ist die Zahl der Käufer auf dem Publikumsbuchmarkt, also dem Buchmarkt ohne Schul- und Fachbücher, um 6,4 Millionen auf unter 30 Millionen zurückgegangen, ein Minus von 18 Prozent.
  • Käuferrückgänge finden in allen Altersgruppen, aber insbesondere in den jüngeren Zielgruppen von 20 bis 49 Jahre, statt.
  • Bei den „Abwanderern“ gibt es, was die Analyse erschwert, kaum Spezifika: Sie finden sich in beiden Geschlechtern, allen Bildungsschichten, in Groß- wie Kleinstädten.

 

Seit Bekanntwerden der Studienergebnisse ist die Branche alarmiert. Und der Branchenverband, der über Jahre bei jeder Gelegenheit mantraartig die Einzigartigkeit des Buchs im Medienwettbewerb sowie seinen Leitmedien-Charakter betont hatte, analysiert die Situation erstaunlich schonungslos und selbstkritisch: „Hat unser Produkt ausgedient oder verkaufen wir es nicht richtig?“, fragte der Börsenvereins-Vorsteher Heinrich Riethmüller zur Eröffnung der „Buchtage“-Konferenz im Juni 2018 in Berlin. Und warnte: „Die Kunden sind dabei, sich schleichend von uns zu entfernen.“

 

Convenience-Medien überholen das Buch
Auf der Suche nach Gründen für den, so der Börsenverein, „dramatischen Rückgang bei Käufern und Lesern“, wurden folgende Ursachen identifiziert:

 

  • Der Alltagsstress und die digitale Kommunikation nehmen die Menschen so in Anspruch, dass sie immer weniger zum Lesen kommen.
  • Es folgt eine zunehmende Zuwendung zu Convenience-Angeboten wie Fernsehen, die nur eine geringe geistige Aktivität erfordern und, anders als das Buch, auch nebenbei genutzt werden können.
  • Ergo verschwinden Bücher für immer mehr Menschen vom Radar; über Netflix-Serien wird gesprochen, Bücher fehlen im Diskurs.
    Vor dem Hintergrund der hier aufgezeigten fundamentalen lebensweltlichen Veränderungen, unter denen der Buchkonsum leidet, haben sich viele Verleger und Buchhändler von der Hoffnung verabschiedet, unmittelbar gegensteuern zu können. Alle Maßnahmen, die jetzt ansetzen, helfen bestenfalls langfristig. Der Buchmarkt wird mittelfristig also voraussichtlich weiter Kunden verlieren, was dazu führen wird, dass alles darangesetzt wird, zunächst das Geschäft mit den verbleibenden Kunden zu stabilisieren und auszubauen, um erst einmal das Schlimmste zu verhindern.

 

Selfpublishing gräbt Verlagen das Wasser ab
Doch auch diese Mission ist nicht leicht, denn der früher von vielen Verlagen belächelte Selfpublishing-Markt – die Veröffentlichung von Büchern ohne Verlage über Dienstleister wie Amazon oder Books on Demand (BoD) – hat sich zu einem veritablen Wettbewerber für die Verlage entwickelt. Im Zuge der Digitalisierung der Branche haben unabhängige Autoren ganze Nischen in der Genreliteratur wie Romance für sich erobert. Ein Blick auf die E-Book-Bestsellerliste von Amazon zeigt, wie stark Bücher von Selfpublishern inzwischen bestimmte Marktsegmente beherrschen. Dabei haben Selfpublisher zunächst meist günstige Preise für ihre Bücher als Türöffner zum Leser genutzt. Inzwischen agieren viele Selfpublisher aber selbst so professionell, dass sie auch inhaltlich und bei der Vermarktung ihrer Titel mit der Verlagskonkurrenz mithalten können und auch höhere Preise ansetzen. Und auch bei gedruckten Büchern wächst der Selfpublishing-Markt weiter rasant, zumindest nach Zahlen des marktführenden Dienstleisters BoD: Demnach war Ende 2016 jede vierte Print-Neuerscheinung ein Selfpublishing-Titel, Ende 2017 bereits jede dritte Erstauflage.

 

Zwar haben auch Verlage wie Holtz­brinck – seit 2008 mit der Tochter Epubli, später auch mit der Firma Neobooks – und Random House – seit 2015 mit dem Selfpublishing-Verlag Twentysix – längst das Potenzial des Selfpublishings für sich entdeckt. Und doch fremdeln vielerorts die Verlagslektoren noch mit dem vergleichsweise jungen Markt, weshalb traditionelles und Selfpublishing noch weitestgehend getrennt operieren.
Das Fazit: Der Buchmarkt 2018 ist also weit von der Stabilität entfernt, die noch vor wenigen Jahren attestiert wurde. Das Buch musste sich schon immer in der medialen Konkurrenz behaupten, doch noch nie war der Wettbewerb um Aufmerksamkeit des Konsumenten so scharf wie heute. So droht das frühere Leitmedium perspektivisch zu einem Sekundärmedium degradiert zu werden, falls es der Buchbranche nicht gelingt, den Leserschwund zu stoppen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

Daniel Lenz
Daniel Lenz ist selbstständiger Projektentwickler bei ecolot.de und Wirtschaftsjournalist. Er beschäftigt sich seit dem Jahr 2000 intensiv mit dem Buchmarkt.
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