Der Exodus der Leser

Die Buchbranche kämpft mit der verschärften Medienkonkurrenz

Die jüngste Geschichte der deutschen Buchbranche ist die eines gesunden Selbstbewusstseins und anschließend einer fundamentalen Verstörung. Über Jahre galt das Geschäft mit Büchern im Vergleich zu anderen Medienbranchen als weitestgehend krisensicher. „Stabilität im Wandel“, unter dieser Überschrift hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Verband der Verlage und Buchhandlungen, den Markt noch Mitte 2017 optimistisch subsumiert. Der Beleg damals: Der Buchmarktumsatz ist von 2006 bis 2016 stabil geblieben – der Umsatz lag 2016 mit 9,28 Milliarden Euro um 0,2 Prozent über dem Wert von 2006. Die Schlussfolgerung des Verbands und vieler Verleger und Buchhändler seinerzeit: Wenn eine Branche die Hochphase der digitalen Transformation der Medienindustrie – als Innovations-Schlaglichter seien genannt: Twitter 2006, iPhone 2007, WhatsApp 2009, Spotify-Start in Deutschland 2012 – sowie andere wirtschaftliche Umwälzungen der Gesellschaft weitestgehend unbeschadet übersteht, ist dies wohl als Erfolg zu werten.

 

Errungenschaften in der digitalen Transformation
Für diese These gab es neben der Umsatzentwicklung durchaus weitere gute Gründe:

 

  •   Amazon in Schach gehalten: Zwar ist der E-Commerce-Gigant auch hierzulande mit einem Umsatz von umgerechnet 15,3 Milliarden Euro in 2017 der größte Einzel- und auch Buchhändler. Und doch ist es den traditionellen Branchenakteuren gelungen, gerade auf dem digitalen Buchmarkt Amazon etwas entgegenzusetzen. Unter der Marke Tolino haben sich 2013 der Club Bertelsmann, Hugendubel, Thalia und Weltbild mit der Deutschen Telekom verbündet, um ein Angebot für E-Books und E-Reader auf den Markt zu bringen – was außergewöhnlich war, weil die Unternehmen abseits von Tolino Wettbewerber waren und immer noch sind. Fünf Jahre später liegt die inzwischen um viele weitere Partner im Buchhandel gewachsene Allianz mit einem Marktanteil von 40 Prozent beim E-Book-Verkauf in Schlagdistanz zum E-Book-Pionier Amazon Kindle, der einen Marktanteil von 50 Prozent verzeichnet – was Buchhändlern in keinem anderen Markt der Welt im Bereich E-Reading gelungen ist.
  •  Das große Buchhandelssterben verhindert: Zwar hat der Markt allein durch den Rückbau des Weltbild-Konzerns und die Schließung des Bertelsmann-Clubs 2014/2015 nach Berechnungen des Branchenmagazins Buchreport 140 Läden und eine addierte Verkaufsfläche von ca. 20.000 Quadratmetern verloren; für die Jahre davor fällt die Minus-Bilanz jeweils ähnlich hoch aus. Und doch hat sich der Buchhandel wieder stabilisiert, das Buchhandelsnetz ist weiterhin – gerade verglichen mit Ländern wie den USA und Großbritannien – dicht. Filialisten wie Thalia, Hugendubel oder die Mayersche Buchhandlung haben ihren Krisenmodus inzwischen beendet und expandieren sogar teilweise wieder. Außerdem werden immer mehr Bücher auf den sogenannten „Nebenmärkten“ wie z. B. im Lebensmitteleinzelhandel oder in Baumärkten verkauft, was für die Verlage entstandene Lücken im Buchhandel teilweise kompensiert.
  •  Konzentration ausgebremst: In den 1990er und 2000er Jahren ging die Angst vor den großen Konzernen um, die einen unabhängigen Verlag nach dem anderen zu schlucken drohten. Nicht zu Unrecht, Transaktionen wie der Verkauf der Springer-Verlagsgruppe Ullstein Heyne List an Bertelsmann und Bonnier 2003 sorgten für völlig neue Koordinaten auf dem Markt. Jahre später folgte im Buchhandel eine Expansions- und Konzentrationswelle, bei der Akteure wie Thalia, Weltbild und Hugendubel wuchsen – zu aggressiv und schnell, wie sich später herausstellte. Verglichen mit den 2000er Jahren war es in den vergangenen Jahren dagegen weitestgehend ruhig, was Übernahmen und Fusionen betrifft. Über Jahre gab es im Publikumsmarkt keine oder nur wenige größere Verlagsübernahmen, während die großen Buchhandlungen bestenfalls wieder vorsichtig wachsen.
  •  Preisbindung untermauert: Trotz allerlei Angriffe wurde das 2002 in Kraft getretene Buchpreisbindungsgesetz als Schutzmauer des Kulturguts Buch bis heute verteidigt; zum 1. September 2016 folgte eine Ergänzung, nach der unter anderem auch E-Books unter die Preisbindung fallen. Damit wurde auch ein Damoklesschwert entschärft – die Gefahr, dass international agierende Internet-Händler vom europäischen Ausland aus gedruckte oder digitale Bücher massenhaft unterhalb der Preisbindung nach Deutschland verkaufen konnten. Zuletzt hat sich der Kulturausschuss des Bundestages im Juni 2018 einhellig für die Buchpreisbindung ausgesprochen, nachdem die Monopolkommission in einem Sondergutachten die Abschaffung der Buchpreisbindung empfohlen hatte.
  •  Neue Geschäftsmodelle erfunden: Schon frühzeitig hat sich die Branche Gedanken über neue digitale Formate und Geschäftsmodelle gemacht. So wurde beispielsweise 2010 – im Jahr vor dem Deutschland-Start von Amazons E-Book-Angebot Kindle – die Firma Skoobe gegründet, als Joint -Venture der Verlagsgruppen Holtzbrinck und Random House sowie des Bertelsmann-Dienstleisters Arvato. Skoobe bietet E-Books als Flatrate an, wie es im Film- bzw. Musikbereich mit z. B. Netflix und Spotify besonders weit verbreitet ist. Hinzu kommt, dass viele Verlage in den vergangenen Jahren gerade im digitalen Bereich viel experimentiert haben, etwa mit digitalen Imprints, also Sub-Marken, die gezielt auf bestimmte Buchgenres oder Lesergruppen fokussieren. Dabei werden beispielsweise reichweitenstarke YouTuber für Buchprojekte eingespannt, um eine jüngere Zielgruppe zu erreichen.

    Buchmarkt hat Millionen Buchkäufer verloren
    Viel versucht, einiges geschafft, aber noch immer zu wenig erreicht – so lautet bei allen positiven Trends jedoch das Fazit der vielen Umbauten und Experimente, mit denen die Buchbranche versucht hat, sich in der digitalen Transformation zu behaupten. Denn: Einige Monate, bevor der Börsenverein Mitte 2017 den Markt mit der eingangs zitierten Wendung „Stabilität im Wandel“ und „erfolgreich in der digitalen Transformation“ charakterisierte, mehrten sich die Anzeichen, dass der Buchmarkt doch nicht so gesund ist wie gehofft. „Wir haben mehrere Millionen Käufer verloren“ – was Joerg Pfuhl, CEO der deutschen Holtzbrinck-Buchverlage, schon kurz nach seinem Antritt Ende 2016 in der Fachzeitschrift Buchreport formulierte, wurde bald darauf in einer Studie des Börsenvereins und des Marktforschungsinstituts GfK untermauert. Erkenntnisse, die noch immer für allerlei Verstörung in der Branche sorgen, sind:

 

  • Zwar war der Markt trotz großer Medienkonkurrenz umsatzseitig in den letzten 15 Jahren weitgehend stabil geblieben. Diese positive Bilanz wurde aber weitestgehend durch Preissteigerungen der Verlage erreicht – tatsächlich wurden 2017 im siebten Jahr in Folge weniger Bücher verkauft.
  • Während der Buchmarkt die Umsätze gerade einmal stabil halten konnte, haben die Games-, Video- und Kinobranche deutlich dazu gewonnen.
  • Besonders dramatisch: Zwischen 2013 und 2017 ist die Zahl der Käufer auf dem Publikumsbuchmarkt, also dem Buchmarkt ohne Schul- und Fachbücher, um 6,4 Millionen auf unter 30 Millionen zurückgegangen, ein Minus von 18 Prozent.
  • Käuferrückgänge finden in allen Altersgruppen, aber insbesondere in den jüngeren Zielgruppen von 20 bis 49 Jahre, statt.
  • Bei den „Abwanderern“ gibt es, was die Analyse erschwert, kaum Spezifika: Sie finden sich in beiden Geschlechtern, allen Bildungsschichten, in Groß- wie Kleinstädten.

 

Seit Bekanntwerden der Studienergebnisse ist die Branche alarmiert. Und der Branchenverband, der über Jahre bei jeder Gelegenheit mantraartig die Einzigartigkeit des Buchs im Medienwettbewerb sowie seinen Leitmedien-Charakter betont hatte, analysiert die Situation erstaunlich schonungslos und selbstkritisch: „Hat unser Produkt ausgedient oder verkaufen wir es nicht richtig?“, fragte der Börsenvereins-Vorsteher Heinrich Riethmüller zur Eröffnung der „Buchtage“-Konferenz im Juni 2018 in Berlin. Und warnte: „Die Kunden sind dabei, sich schleichend von uns zu entfernen.“

 

Convenience-Medien überholen das Buch
Auf der Suche nach Gründen für den, so der Börsenverein, „dramatischen Rückgang bei Käufern und Lesern“, wurden folgende Ursachen identifiziert:

 

  • Der Alltagsstress und die digitale Kommunikation nehmen die Menschen so in Anspruch, dass sie immer weniger zum Lesen kommen.
  • Es folgt eine zunehmende Zuwendung zu Convenience-Angeboten wie Fernsehen, die nur eine geringe geistige Aktivität erfordern und, anders als das Buch, auch nebenbei genutzt werden können.
  • Ergo verschwinden Bücher für immer mehr Menschen vom Radar; über Netflix-Serien wird gesprochen, Bücher fehlen im Diskurs.
    Vor dem Hintergrund der hier aufgezeigten fundamentalen lebensweltlichen Veränderungen, unter denen der Buchkonsum leidet, haben sich viele Verleger und Buchhändler von der Hoffnung verabschiedet, unmittelbar gegensteuern zu können. Alle Maßnahmen, die jetzt ansetzen, helfen bestenfalls langfristig. Der Buchmarkt wird mittelfristig also voraussichtlich weiter Kunden verlieren, was dazu führen wird, dass alles darangesetzt wird, zunächst das Geschäft mit den verbleibenden Kunden zu stabilisieren und auszubauen, um erst einmal das Schlimmste zu verhindern.

 

Selfpublishing gräbt Verlagen das Wasser ab
Doch auch diese Mission ist nicht leicht, denn der früher von vielen Verlagen belächelte Selfpublishing-Markt – die Veröffentlichung von Büchern ohne Verlage über Dienstleister wie Amazon oder Books on Demand (BoD) – hat sich zu einem veritablen Wettbewerber für die Verlage entwickelt. Im Zuge der Digitalisierung der Branche haben unabhängige Autoren ganze Nischen in der Genreliteratur wie Romance für sich erobert. Ein Blick auf die E-Book-Bestsellerliste von Amazon zeigt, wie stark Bücher von Selfpublishern inzwischen bestimmte Marktsegmente beherrschen. Dabei haben Selfpublisher zunächst meist günstige Preise für ihre Bücher als Türöffner zum Leser genutzt. Inzwischen agieren viele Selfpublisher aber selbst so professionell, dass sie auch inhaltlich und bei der Vermarktung ihrer Titel mit der Verlagskonkurrenz mithalten können und auch höhere Preise ansetzen. Und auch bei gedruckten Büchern wächst der Selfpublishing-Markt weiter rasant, zumindest nach Zahlen des marktführenden Dienstleisters BoD: Demnach war Ende 2016 jede vierte Print-Neuerscheinung ein Selfpublishing-Titel, Ende 2017 bereits jede dritte Erstauflage.

 

Zwar haben auch Verlage wie Holtz­brinck – seit 2008 mit der Tochter Epubli, später auch mit der Firma Neobooks – und Random House – seit 2015 mit dem Selfpublishing-Verlag Twentysix – längst das Potenzial des Selfpublishings für sich entdeckt. Und doch fremdeln vielerorts die Verlagslektoren noch mit dem vergleichsweise jungen Markt, weshalb traditionelles und Selfpublishing noch weitestgehend getrennt operieren.
Das Fazit: Der Buchmarkt 2018 ist also weit von der Stabilität entfernt, die noch vor wenigen Jahren attestiert wurde. Das Buch musste sich schon immer in der medialen Konkurrenz behaupten, doch noch nie war der Wettbewerb um Aufmerksamkeit des Konsumenten so scharf wie heute. So droht das frühere Leitmedium perspektivisch zu einem Sekundärmedium degradiert zu werden, falls es der Buchbranche nicht gelingt, den Leserschwund zu stoppen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

Daniel Lenz
Daniel Lenz ist selbstständiger Projektentwickler bei ecolot.de und Wirtschaftsjournalist. Er beschäftigt sich seit dem Jahr 2000 intensiv mit dem Buchmarkt.
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