„Wir sind die Trüffelschweine für unsere Hörer“

Gregor Friedel im Gespräch

Folgen Sie den jungen Hörern ins Internet?

Das ist ein Riesenthema. Playlists von uns stehen bei Spotify. Wir machen viele Podcasts. Das wird immer größer. Durch sie gibt es insgesamt eine wesentlich größere Audionutzung. Das kommt aus den USA. Eine Erklärung ist, dass die Immobilienpreise und Mieten in den Städten immer höher werden und die Leute deshalb aufs Land ziehen. Da die Internetversorgung dort aber nicht so gut ist, um ständig Filme zu gucken, hat der Audiomarkt massiv an Bedeutung gewonnen. Davon profitieren wir im Radio alle. Wir versuchen sie mit dem Vertrauen, das wir nach wie vor genießen, auf allen Wegen abzuholen.

 

Verändert das Streaming auch die Machart der Musik?

Das ist ein spannendes Phänomen, das uns in die Karten spielt. Früher gab es Songs, die hatten ein Intro von zwei Minuten. Da die Leute im Internet nur ein paar Sekunden reinhören und wenn es ihnen nicht gefällt gleich weiterschalten, packen die Musikproduzenten und Songschreiber das, was die Hörer hält, gleich an den Anfang. Stücke beginnen heute oft mit der Hook, dem Refrain, damit die Leute sofort wissen, wie der Song klingt. Das Zweite ist: Radiosender spielen, um eine größtmögliche Abwechslung zu haben, so viele Titel pro Stunde wie möglich. Das geht nur, wenn die Songs kürzer sind. Wenn eine klassische Popnummer in den 1980er Jahren zwischen 4:30 Minuten und 5 Minuten dauerte, sind es heute meist nur zwischen 2:30 Minuten und 3 Minuten.

 

Früher ging man in den Plattenladen, hörte sich verschiedene Scheiben an und ging mit einer Neuerwerbung stolz nach Hause. So entstand auch physisch eine Bindung, die oft ein Leben lang hielt. Wie ist das heute, wo Musik überwiegend digital konsumiert wird?

Dadurch, dass Musik nun für jeden zu jeder Zeit frei verfügbar ist, hat sie bedauerlicherweise an Stellenwert verloren. Da ist jemand, der komponiert, textet und produziert einen Song und nimmt ihn auf, um mich zu erfreuen – das hat nicht mehr die Bedeutung. Es ist eine reine Konsumware geworden. Das ist eine sehr miese Entwicklung, vor allem für die Künstlerinnen und Künstler, die davon leben. In Crailsheim, wo ich geboren und aufgewachsen bin, einer Kleinstadt in Baden-Württemberg „in the middle of nowhere“, gab es Günters Plattenladen. Da bin ich nach der Schule immer hingefahren, wenn ich Geld zusammen hatte, und habe mir Musik angehört. Eines Tages habe ich eine Platte erstanden, „Hatful of Hollow“ von The Smiths, habe sie an den Lenker meines Mofas gehängt und bin zu meiner damaligen Freundin gefahren. Ich weiß bis heute, wie die Lichtverhältnisse waren, wie die Luft gerochen hat, als ich sie auflegte, weil mich das umgehauen hat. Ich bin inzwischen 26-mal umgezogen, es ist immer noch jedes Mal die erste Platte, die ich höre, wenn ich meine Anlage aufgebaut habe. Damals war ich 15, heute bin ich 54. Ich glaube nicht, dass so etwas heute noch passieren kann.

 

Bei mir selbst und anderen beobachte ich, dass ab einem bestimmten Alter die Lust an ständig Neuem nachlässt und man gerne immer wieder vertraute Stücke und Bands hört. Manche Sender leben davon und spielen nur Oldies der 1970er, 1980er, 1990er Jahre, aus der Jugend der Hörer. Wie ist das bei SWR3? Altern Ihnen irgendwann die Hörer weg?

Die große Kunst, die uns ganz gut gelingt, ist, diese Leute abzuholen, aber nicht nur alten Kram zu spielen. Wir spielen jede Stunde einen Song aus den 1980ern oder 1990ern, an den sich die Älteren erinnern, weil sie zu ihm z. B. das erste Mal geknutscht haben. Das sind sozusagen „Ankertitel“. Gleichzeitig versuchen wir ihnen zu sagen, es gibt neue Musik, die könnte dir auch gefallen. Das ist äußerst diffizil. Man schafft es nie, alle zu befriedigen. Aber wenn die Leute wissen, sie können sich drauf verlassen, dass wir auch ihre Lieblingsmusik spielen, bleiben sie dran.

 

Konfrontieren Sie die Hörer auch mit völlig Ungewohntem?

Dinge am Rand kann man machen. Abends nach der Hauptsendezeit spielen wir auch Nummern darüber hinaus. Aber man muss berücksichtigen: Wir „Älteren“ haben die Musik noch übers Radio kennengelernt, man saß gebannt davor und hat sich die Titel aufgeschrieben, um in den Plattenladen zu laufen und sie zu kaufen. Das ist heute ganz anders. Radio hat sich zu einem Nebenbeimedium entwickelt. Die Leute wollen nicht mehr überrascht werden,  sondern ihren gewohnten Sound haben.

 

Wie ist das bei Klassikfans, bei Jazz, Country oder Schlagern?

Bei den Sendern, die ältere Hörer ansprechen, ist die Verbundenheit zum Radio noch wesentlich größer. Da laufen nur Sachen, die sie mögen. Diesen Wellen steht eine goldene Zeit bevor, denn die Leute werden ja immer älter. Es gibt nichts, was mehr nach Erfolg schreit, als wenn man das gut macht.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.

Gregor Friedel und Ludwig Greven
Gregor Friedel ist Leiter der Abteilung Musik und Musikevents bei SWR3. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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