„Digitial first“?

Digitale Formate im Hörfunk

Wie stellt sich der Hörfunk dem digitalen Wandel? Wolfhard Kahler gibt im Gespräch mit Sandra Winzer Einblick in die Digitalpolitik des Hessischen Rundfunks.

 

Sandra Winzer: Herr Kahler. Sie sind seit 15 Jahren beim Hessischen Rundfunk, waren vorher beim SWR und bei FFH. Insgesamt blicken Sie auf über 30 Jahre Radioerfahrung zurück. Was hat sich seitdem im Radio am stärksten verändert?

Wolfhard Kahler: Ich setze da die Brille der Reporterinnen und Reporter auf. Die größte Veränderung sehe ich im Bereich des Wortes. Egal ob hr3, FFH oder Antenne Niedersachsen – vor allem Begleitradios sind seit den 1980er Jahren tiefgreifend formatiert worden. Es gibt klare Vorgaben bezüglich Musikfarbe und Wortlänge. Jede Stunde ist klar gegliedert; es steht fest: Wann darf was passieren? Ein Reporter muss den Inhalt einer Geschichte heutzutage in vielen Fällen unter zwei Minuten erzählen. Das kann mitunter wehtun; vor allem bei komplexen oder kontroversen Themen funktioniert das nicht besonders gut. Eine kleine Renaissance des Wortes zeigt sich aber; Gespräche zwischen Moderatorinnen und Reportern werden zum Teil wieder länger. Und Formatbrüche werden auch als Chance wahrgenommen, Hörerinnen und Hörer zu überraschen. Informationsradios wiederum haben an Bedeutung gewonnen; bei uns ist das hr-iNFO. Sie bieten von Natur aus mehr redaktionellen Raum.

 

Der Hessische Rundfunk setzt verstärkt auf digitale Formate, auch im Bereich Audio. Immer wieder fällt der Begriff „digital first“. Was genau meinen Sie damit?

Es ist etwas komplexer als nur „digital first“. Dort, wo Radio gut funktioniert, vor allem am Morgen und am Vormittag, wollen wir weiterhin unsere Arbeit reinstecken. Das sind die starken Zeiten für lineares Radio. Wir wissen aber auch, dass wir im Bereich „digitales Audio“ besser werden müssen. Wir möchten mehr Produkte konzipieren, die Nutzerinnen und Nutzer, wann immer sie wollen, abrufen können. Für diese Produkte gilt genau genommen „digital only“. Sie werden für den Audiomarkt im Internet gemacht. Das können Podcasts und Doku-Dramen für die Audiothek sein oder ein hessisches News-Format für den Smart-Speaker wie unsere „hessenschau in hundert Sekunden“.

 

Welche Vorteile sehen Sie in dieser Neuausrichtung?

Wir beobachten beim Radio einen Publikumsabriss bei Menschen unter 30. Die jungen Hörerinnen und Hörer sind nur schwer für Radio zu begeistern. Sie nutzen das Smartphone oder das Entertainment-System im Auto, was bedeutet: Wir müssen sie dort auf andere Weise erreichen, mit Podcasts oder Audio-on-Demand-Angeboten. Dieser Bereich wächst weiter. Auch hier werden wir verstärkt Kraft reinstecken müssen. Als öffentlich-rechtlicher Sender haben wir den Auftrag, allen Menschen in der Gesellschaft ein Angebot zu machen, auch jungen Menschen.

 

Welchen Hörfunk brauchen wir heutzutage im digitalen Wandel?

Für mich ist die Grundsatzfrage: Was kann Radio besser als Spotify oder YouTube? Die erste Stärke liegt darin, dass Radio Gemeinsamkeit schafft. Ein Begleitradio hat mehrere Hunderttausend Hörerinnen und Hörer. Das, was sie in einem Moment hören, hören gleichzeitig viele andere auch. In vielen Büros oder Autowerkstätten läuft Radio. Es gibt ein Miteinander, eine Community. Heute Morgen habe ich z. B. mitbekommen, wie Dachdecker auf einer Baustelle ganz laut hr3 gehört haben. Radio ist ein guter Kompromiss, der viele Menschen gleichzeitig erreicht, berührt und begeistert.

Außerdem ist Radio verlässlich. Sie schalten es ein, weil Sie eine bestimmte Farbe, Ansprache oder bestimmte Informationen erwarten. Wie eine Art Klangteppich, auch was die Musik betrifft. Wie beim Wasserhahn kommt das raus, was die Hörer in dem Moment gerade braucht. Das Begleitradio plätschert aber nicht vor sich hin, das schafft auch eine Playlist bei Spotify, die ich im Zweifel noch spezifischer auf meinen individuellen Musikgeschmack ausrichten kann. Aus dem „Radiowasserhahn“ aber kommt auch Unerwartetes: Espresso, Apfelschorle oder Kamillentee. Etwas, das Sie, bei aller Verlässlichkeit des Mediums, trotzdem noch überrascht. Das kann Radio; es kann mitreißen.

 

Gibt es Formate, die zugunsten der digitalen Ausrichtung neu ausgerichtet oder ganz eingestampft werden müssen?

Im Radio werden wir uns im Hessischen Rundfunk künftig auf die Zeiten konzentrieren, in denen es am meisten nachgefragt wird. Das ist vor allem am Morgen und am Vormittag der Fall. In weniger genutzten Zeiten, am Abend oder am Wochenende, werden wir darüber nachdenken, Inhalte zu nutzen, die wir fürs Digitale produziert haben. Mit dem Ziel, unsere Zeit und Arbeitskraft an den richtigen Stellen einzusetzen.

Im Bereich „Digitales“ müssen wir stärker werden. Ein wenig haben wir schon erreicht: Wir senden den True-Crime-Podcast „Verurteilt“, der sehr gut funktioniert und in die sechste Staffel geht. hr-iNFO hat das Format „Weltraumwagner“ gestartet und erreicht damit eine enge Interessengruppe. Auch „Freiheit deLuxe“ kommt vom hr; es gibt viele interessante Audioprojekte. Außerdem produzieren wir für hr-iNFO Sendungen wie „hr-iNFO-Wirtschaft“ oder „Der Tag in Hessen“, die auch in der Audiothek abrufbar sind. Wir lernen gerade jede Menge dazu und ich freue mich über jede neue Idee, die Potenzial hat

Wolfhard Kahler und Sandra Winzer
Wolfhard Kahler ist Crossmedialer Manager Hörfunk im Führungsteam der Hesseninformation des Hessischen Rundfunks. Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.
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