Der SWR3-Musikchef Gregor Friedel spricht mit Ludwig Greven darüber, wie die Streamingdienste Hörgewohnheiten und die Songs verändern, welche Rolle das Radio für Popfans noch spielt und warum Klassik-, Jazz- und Schlagerprogramme eine goldene Zukunft haben.
Ludwig Greven: Was zahlen Ihnen die Plattenfirmen dafür, dass Sie ihre Titel spielen?
Gregor Friedel: „Payola“ hat es vielleicht irgendwann mal gegeben in den USA, zu Beginn des Privatradios. Nein, die Plattenfirmen zahlen uns nichts, und keiner von uns würde den schönsten Job der Welt riskieren, indem er dafür Geld kassiert. Wir setzen uns mit acht Redakteuren jede Woche zusammen und sprechen über die Titel, die uns aufgefallen sind auf einer Promotion-Plattform der Labels, auf die alle neuen Titel hochgeladen werden. Wir ringen mitunter um jedes Stück. Wenn eine Mehrheit sagt, wir spielen das, dann machen wir’s, auch wenn ich z. B. sage, den Song finde ich nicht so riesig. Unser Selbstverständnis ist, dass wir unsere redaktionellen Entscheidungen völlig frei und unabhängig treffen.
Was sind Ihre Kriterien? In erster Linie der jeweilige eigene Geschmack und persönliche Vorlieben?
Jede und jeder von uns ist in der Lage, seine Musikvorlieben vom Beruflichen zu trennen. Was ich privat höre, passt nicht in das Format von SWR3. Wir wissen durch die Medienforschung, wer uns hört und welches Zielpublikum wir ansprechen. Wir haben über viele Jahre Erfahrungen gesammelt und wissen z. B., dass Hip-Hop und Metal bei uns nicht funktionieren. Es gibt im Endeffekt zwei Schienen: Entweder fügt es sich gut in unser Musikprogramm ein. Oder wir beteiligen uns am Künstleraufbau vielversprechender Nachwuchskünstlerinnen und -künstler, die dann im Idealfall beim SWR3 New Pop Festival im September auftreten. So haben wir 2016 zusammen mit einem anderen Sender zum ersten Mal überhaupt im Radio die Single „Human“ von Rag ‘n‘ Bone Man gespielt. Dessen Karriere hierzulande ging mit uns los. Damals kannte ihn keiner. Als er ein Jahr später bei unserem Festival spielte, war er ein Weltstar. Wenn wir von einer Künstlerin oder einem Künstler überzeugt sind, dass sie ein New Pop Act wird, unterstützen wir sie von Anfang an. Auch dann gilt jedoch die Prämisse, es muss zu SWR3 passen. Aber natürlich hat jeder eine andere Wahrnehmung und Meinung, jeder hat eine unterschiedliche musikalische Sozialisation. Der Jüngste bei uns ist 24, der Älteste über 60. Auch deshalb ringen wir gelegentlich um Titel.
Welche Rolle spielt, ob Bands oder Sängerinnen und Sänger gerade angesagt sind und sich ihre Titel gut verkaufen? Sie brauchen doch sicher eine Mischung aus Hits und Unbekanntem.
Ob sie sich verkaufen, ist für uns zweitrangig. Es gibt Hits, die im Radio gut laufen, sich aber nicht verkaufen, oder die im Internet abgehen, bei uns nicht. Es wäre falsch zu behaupten, dass es keine Rolle spielt, ob die Künstlerinnen und Künstler bekannt sind. Wenn Nummern von Pink oder Ed Sheeran kommen, können wir davon ausgehen, dass sie die Qualität haben, dass wir sie spielen können und dass sie zu uns passen. Ein bekannter Name bedeutet aber nicht automatisch, dass er bei uns in die Rotation kommt, also immer wieder gespielt wird. Gerade auch unbekannte Künstlerinnen und Künstler haben bei uns große Chancen.
Ist es immer noch so, dass Musikerinnen und Musiker durch das Radio promotet werden?
Es gibt Künstler, die funktionieren nur auf den Streamingplattformen. Eine hochrangige Managerin einer Plattenfirma hat mir aber mal gesagt: Über das Streaming machst du einen Hit, einen Smash Hit nur übers Radio. Wenn man sich die Gesellschaft anschaut, sind die Streaming-Leute bis Mitte 30. Das heißt, es gibt mehrere Generationen, die stark an Musik interessiert sind, aber nicht die Zeit haben, aktiv nach Neuem zu suchen. Die werden von diesem Segment nicht bedient. Ältere nutzen ihren Streamingdienst in der Regel als Playlist. Sie suchen darüber nicht Unbekanntes. Da übernimmt Radio eine wichtige Rolle. Unsere Hörer fühlen sich bei uns gut aufgehoben, da sie dort die Musik bekommen, die ihnen gefällt. Und dann bieten wir ihnen Künstlerinnen und Künstler an, von denen wir überzeugt sind, dass sie gut sind, sagen, wie sie und das Stück heißen, und erzählen Hintergründe dazu. Das machen wir nicht einmal, sondern wenn das Stück in die Rotation kommt, drei Mal am Tag. Irgendwann kennen unsere Hörer sie. Während junge Leute neue Musik im Internet finden, schaffen wir es, sie in den Mainstream zu bringen. Wir sind die Trüffelschweine und Ratgeber für unsere Hörer, die uns und unserer Musikauswahl vertrauen.
Wie merken Sie, ob Ihre Mischung bei den Hörerinnen und Hörern ankommt?
Es gibt Hörerfeedback, mal Lob, mal Tadel. Aber in der Regel nicht mit dieser Hasskultur wie zum Teil im Internet. Bei der Medienanalyse zweimal im Jahr spielt die Musikauswahl ebenfalls eine Rolle. Und alle zehn Tage schicken wir sogenannte Hooks, kleine Songschnipsel, an die Medienforschung. Die werden dann einer breiten Mischung von Hörerinnen und Hörern unterschiedlichen Alters und Geschlechts vorgespielt, sie werden gefragt, gefallen sie Ihnen, sollen sie öfter laufen oder nicht? Aber natürlich stehen wir auch für einen ganz bestimmten Sound. Ein Fundament von Rock-Pop, das sich über Jahrzehnte angepasst hat und mit dem arbeitet, was es aktuell gibt. In der Grundfarbe hat es sich nie verändert.
Haben Sie noch eine treue Hörergemeinde?
Wir haben sogar einen SWR3-Club mit weit mehr als 60.000 Mitgliedern und einem eigenen Clubmagazin. Das sind Leute, die mit uns groß geworden sind und sich noch viel mit Radio befassen. Wie das in 10 oder 20 Jahren ausschaut, ob die Leute, die jetzt 14, 15 oder 16 sind, dann noch einem solchen Club beitreten würden, kann ich nicht einschätzen. Ich vermute eher nicht, weil sich die Ausspielwege völlig verändert haben. Radio hat immer noch eine große Bedeutung. Die Mediennutzungszeit ändert sich jedoch, weil es daneben so viele andere Angebote gibt. Wir konkurrieren viel stärker um die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer als vor 20, 30 Jahren. Deshalb ist es heute viel schwieriger, jemand dazuzubringen, eine Identifikation mit einem Radioprogramm zu entwickeln.
Folgen Sie den jungen Hörern ins Internet?
Das ist ein Riesenthema. Playlists von uns stehen bei Spotify. Wir machen viele Podcasts. Das wird immer größer. Durch sie gibt es insgesamt eine wesentlich größere Audionutzung. Das kommt aus den USA. Eine Erklärung ist, dass die Immobilienpreise und Mieten in den Städten immer höher werden und die Leute deshalb aufs Land ziehen. Da die Internetversorgung dort aber nicht so gut ist, um ständig Filme zu gucken, hat der Audiomarkt massiv an Bedeutung gewonnen. Davon profitieren wir im Radio alle. Wir versuchen sie mit dem Vertrauen, das wir nach wie vor genießen, auf allen Wegen abzuholen.
Verändert das Streaming auch die Machart der Musik?
Das ist ein spannendes Phänomen, das uns in die Karten spielt. Früher gab es Songs, die hatten ein Intro von zwei Minuten. Da die Leute im Internet nur ein paar Sekunden reinhören und wenn es ihnen nicht gefällt gleich weiterschalten, packen die Musikproduzenten und Songschreiber das, was die Hörer hält, gleich an den Anfang. Stücke beginnen heute oft mit der Hook, dem Refrain, damit die Leute sofort wissen, wie der Song klingt. Das Zweite ist: Radiosender spielen, um eine größtmögliche Abwechslung zu haben, so viele Titel pro Stunde wie möglich. Das geht nur, wenn die Songs kürzer sind. Wenn eine klassische Popnummer in den 1980er Jahren zwischen 4:30 Minuten und 5 Minuten dauerte, sind es heute meist nur zwischen 2:30 Minuten und 3 Minuten.
Früher ging man in den Plattenladen, hörte sich verschiedene Scheiben an und ging mit einer Neuerwerbung stolz nach Hause. So entstand auch physisch eine Bindung, die oft ein Leben lang hielt. Wie ist das heute, wo Musik überwiegend digital konsumiert wird?
Dadurch, dass Musik nun für jeden zu jeder Zeit frei verfügbar ist, hat sie bedauerlicherweise an Stellenwert verloren. Da ist jemand, der komponiert, textet und produziert einen Song und nimmt ihn auf, um mich zu erfreuen – das hat nicht mehr die Bedeutung. Es ist eine reine Konsumware geworden. Das ist eine sehr miese Entwicklung, vor allem für die Künstlerinnen und Künstler, die davon leben. In Crailsheim, wo ich geboren und aufgewachsen bin, einer Kleinstadt in Baden-Württemberg „in the middle of nowhere“, gab es Günters Plattenladen. Da bin ich nach der Schule immer hingefahren, wenn ich Geld zusammen hatte, und habe mir Musik angehört. Eines Tages habe ich eine Platte erstanden, „Hatful of Hollow“ von The Smiths, habe sie an den Lenker meines Mofas gehängt und bin zu meiner damaligen Freundin gefahren. Ich weiß bis heute, wie die Lichtverhältnisse waren, wie die Luft gerochen hat, als ich sie auflegte, weil mich das umgehauen hat. Ich bin inzwischen 26-mal umgezogen, es ist immer noch jedes Mal die erste Platte, die ich höre, wenn ich meine Anlage aufgebaut habe. Damals war ich 15, heute bin ich 54. Ich glaube nicht, dass so etwas heute noch passieren kann.
Bei mir selbst und anderen beobachte ich, dass ab einem bestimmten Alter die Lust an ständig Neuem nachlässt und man gerne immer wieder vertraute Stücke und Bands hört. Manche Sender leben davon und spielen nur Oldies der 1970er, 1980er, 1990er Jahre, aus der Jugend der Hörer. Wie ist das bei SWR3? Altern Ihnen irgendwann die Hörer weg?
Die große Kunst, die uns ganz gut gelingt, ist, diese Leute abzuholen, aber nicht nur alten Kram zu spielen. Wir spielen jede Stunde einen Song aus den 1980ern oder 1990ern, an den sich die Älteren erinnern, weil sie zu ihm z. B. das erste Mal geknutscht haben. Das sind sozusagen „Ankertitel“. Gleichzeitig versuchen wir ihnen zu sagen, es gibt neue Musik, die könnte dir auch gefallen. Das ist äußerst diffizil. Man schafft es nie, alle zu befriedigen. Aber wenn die Leute wissen, sie können sich drauf verlassen, dass wir auch ihre Lieblingsmusik spielen, bleiben sie dran.
Konfrontieren Sie die Hörer auch mit völlig Ungewohntem?
Dinge am Rand kann man machen. Abends nach der Hauptsendezeit spielen wir auch Nummern darüber hinaus. Aber man muss berücksichtigen: Wir „Älteren“ haben die Musik noch übers Radio kennengelernt, man saß gebannt davor und hat sich die Titel aufgeschrieben, um in den Plattenladen zu laufen und sie zu kaufen. Das ist heute ganz anders. Radio hat sich zu einem Nebenbeimedium entwickelt. Die Leute wollen nicht mehr überrascht werden, sondern ihren gewohnten Sound haben.
Wie ist das bei Klassikfans, bei Jazz, Country oder Schlagern?
Bei den Sendern, die ältere Hörer ansprechen, ist die Verbundenheit zum Radio noch wesentlich größer. Da laufen nur Sachen, die sie mögen. Diesen Wellen steht eine goldene Zeit bevor, denn die Leute werden ja immer älter. Es gibt nichts, was mehr nach Erfolg schreit, als wenn man das gut macht.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.