Wie klingt das Alltagsradio?

Golo Föllmer im Gespräch

Was macht die akustische Ästhetik des Radios aus? Welche Tonalität zeichnet welche Sender aus? Mit diesen Fragen und mehr befasst sich der Musik- und Medienwissenschaftler Golo Föllmer in seiner Forschung. Im Gespräch mit Hans Jessen gibt er Antworten auf diese Fragen.

 

Hans Jessen: Herr Föllmer, Sie beschäftigen sich mit der „Klangästhetik des Alltagsradios“. Was ist „Alltagsradio“, und was ist dessen „Klangästhetik“?

Golo Föllmer: Den Begriff „Alltagsradio“ hebe ich hervor, weil Sendeformen wie Hörspiel oder Feature ja schon sehr intensiv erforscht wurden. Zunächst hatte man da sehr aufs Manuskript geschaut, seit einiger Zeit werden auch klangästhetische Elemente untersucht: Wie wird Musik eingesetzt, welche Montageformen werden genutzt und Ähnliches.

 

Aber das Radio, welches wir einfach so einschalten, hat man bislang so gut wie gar nicht auf seine Klangästhetik untersucht. Ein privatkommerzieller Sender z. B., wo in der „Morningshow“ ein Moderator oder ein Moderatorenduo sitzt und uns etwas erzählt – da schaut man nicht drauf, wie das gestalterisch gemacht ist. Man beschäftigte sich bisher höchstens damit, welche Themen vorkommen, wie sie verbalisiert und kontextualisiert werden – aber es ist fast nur Beschäftigung mit der Sprache. Wir haben nun untersucht, welche klanggestalterischen Merkmale diese Sendungen prägen. Zum Teil durch einfaches, reflektiertes, aufmerksames Zuhören. In der Regel weiß man nach wenigen Sekunden, was für eine Art von Sender das ist: „So sonor und langsam spricht man nur im Deutschlandfunk“ oder „So hektisch und mit hoher, heller Stimme sprechen männliche Moderatoren nur in einer Jugendwelle“ oder „So säuselig spricht man höchstens im Klassikradio“.

Es ist nicht nur die Sprache, sondern auch andere Elemente: Liegt da ein „Musikbett“ unter den Worten? Wie ist die Machart der Jingles, Tempo der Blenden zwischen verschiedenen Musiktiteln? Gehen die schnell, oder klingt ein Stück aus und das nächste fängt vielleicht erst nach einer kurzen Pause an? – das würde z. B. nur in einer Kulturwelle passieren, eine Jugendwelle würde so etwas niemals machen …

 

Wird der Klangeindruck auch durch produktionstechnische Einwirkung gesteuert?

Ja, das ist eine zweite Ebene: Die Sendesignale werden auch technisch gefiltert. Es gibt bestimmte Klangfarben, die hervorgehoben werden, und durch Kompression kann das gesamte Signal noch mal präsenter gemacht werden – auch das wird in unterschiedlichen Formattypen des Radios sehr unterschiedlich gehandhabt. Der Deutschlandfunk komprimiert nur sehr gering, während Jugendwellen ganze „Tafelberge“ an Kompression schaffen, damit es immer mit voller Wucht, „full in your face“, ankommt.

 

Das bedeutet, der Klang eines Programms, einer Welle, enthält Botschaften eigener Art, jenseits der Aussagen von Text- oder Musikinhalten?

Die Nutzung klanggestalterischer Möglichkeiten gibt dem jeweiligen Sender eine „Anmutung“, Jugendwellen sprechen von einem bestimmten „Sound“, den sie haben. Im Englischen sagt man „channel identity“: Dem Sender soll eine bestimmte klangliche Identität gegeben werden, damit jeder, der das hört, sofort sagt: „Ja, ja, das ist meine Welle, mein Milieu, das ist mein Radiosender.“

 

Die Sender nutzen in ihrer Klangästhetik bestimmte Codes, um Aufmerksamkeit zu erregen: Während Jugendwellen häufig eine Art „Aufgeregtheit“ als Grundstimmung vermitteln, finden sich in den Jingles von Inforadios oft Fanfaren oder stilisierte Morsezeichen, die die Botschaft transportieren: „Achtung, jetzt kommt etwas Wichtiges“ – es sind sehr tiefsitzende Muster, die damit aktiviert werden. Klang enthält Botschaften, die für das jeweilige Zielpublikum relevant sind und es einstimmen.

 

Wie hat sich die Klangästhetik in der Radiogeschichte verändert? Vor 100 Jahren noch vielfach Rauschen und Krächzen – war die Möglichkeit der „High Fidelity“ vor gut 50 Jahren der oder ein entscheidender Paradigmenwechsel?

Auf jeden Fall. Das war der Moment, wo überhaupt erst bis zu den Hörerinnen und Hörern eine Klangästhetik übermittelt werden konnte, die das volle Volumen der Stimme trägt. Verstanden hatte man es aufseiten der Radiomacher schon etwas früher. Umfassend umgesetzt werden konnte es aber erst ab den 1950er Jahren.

 

In den frühen Radiosendungen z. B. der 1930er Jahre hören wir oft sehr deklamatorische Sprechweisen, als wenn man ohne Mikrofon vor einer großen Menschenmenge sprechen würde – ein „Verkündungstonfall“. Es dauerte, bis man begriffen hatte: Das stimmt ja gar nicht. Im Radio rede ich nicht zu einer großen Masse, ich rede zu Einzelpersonen in ihren Privathaushalten. Radio ist das Gegenteil von Massenansprache. Ich kann ganz nah an das Mikrofon rangehen, ich muss sozusagen „intim“ adressieren, zum Einzelnen sprechen. Die Sprechweise und die Verwendung des Mikrofons ist wirklich eine intime Angelegenheit, die die Klangästhetik sehr prägt. Die Umsetzung hing aber von den technischen Übertragungs- und Empfangsmöglichkeiten ab.

 

Digitalisierung, Internet und soziale Medien schaffen technologische Möglichkeiten, von denen Radiotheoretiker wie Bertolt Brecht oder Marshall McLuhan nur träumen konnten: Jede und jeder kann mittlerweile nicht nur Empfänger von Radio sein, sondern selbst Radio machen. In Form von Podcasts etwa, deren Zahl rasant zunimmt. Hat das Auswirkungen auf klassische Alltagsradioformate und ihre Klangästhetik?

Es wird schon ein wenig der Bann gebrochen, den die ARD-Sendeanstalten lange vertreten haben. Früher musste es ja immer der stille, optimal gedämmte Studioraum mit einem Neumann-Mikrofon erster Güte sein. Mittlerweile produziert die ARD selbst Podcasts oder lässt sie produzieren für den linearen Sendestream der großen Anstalten – und die sind oft ein wenig „lässiger“, auch in der technischen Qualität. Auch hat die Pandemie Einfluss genommen: Ich moderiere z. B. sporadisch die Klangkunst-Sendung beim Deutschlandfunk Kultur. Die Moderationen nehme ich bei mir im Schlafzimmer auf – früher undenkbar. Das hat Auswirkungen auf die Klangästhetik. Nicht nur, dass es technisch nicht mehr ganz so „clean“ sein muss wie früher – es darf auch andere Sprechweisen enthalten als die, die ein klassisches Tonstudio hervorbringt. Da geraten Dinge in Bewegung. Radio wird auch in dem Sinne „alltäglicher“ gesehen, dass es auch aus dem Alltag heraus entstehen darf und soll und nicht mehr nur aus den traditionellen „Trutzburgen“ hochprofessioneller Produktion. Die haben selbstverständlich nach wie vor ihre Berechtigung, aber daneben gibt es ein Bedürfnis nach Radio, das viel alltäglicher, viel mehr nach Straße klingen darf.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.

Golo Föllmer und Hans Jessen
Golo Föllmer ist Musik- und Medienwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hans Jessen ist freier Publizist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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