Der ehemalige Musikchef des Kulturprogramms von Sachsen Radio und des MDR, Steffen Lieberwirth, spricht mit Ludwig Greven über die wilde Zeit im Radio nach der Wende, die heutigen Formatprogramme und die Bedeutung regionaler Kultur für die Hörer.
Ludwig Greven: Nach einem Musikwissenschaft- und Germanistikstudium an der Leipziger Karl-Marx-Universität haben Sie zunächst in der Konzert- und Gastspieldirektion Leipzig gearbeitet und dann ab 1979 für das DDR-Radio. Wie kam es zu diesem Wechsel?
Steffen Lieberwirth: Meine erste Stelle trat ich aufgrund der in der DDR üblichen Absolventenlenkung an. Das Gute war, dass ich dort Musikprogramme entwickeln durfte und Gewandhauskapellmeister Kurt Masur dadurch auf mich aufmerksam wurde. Das Neue Gewandhaus stand damals kurz vor seiner Einweihung. In meiner Diplomarbeit hatte ich mich mit den Stadtpfeifern beschäftigt, den Vorläufern des Gewandhausorchesters. Mein Umgang mit dem Thema gefiel ihm, denn das neue Haus sollte mit frischen Ideen gefüllt werden und auch junge Leute ansprechen. So wurde ich mit 29 Jahren einer seiner „jungen Wilden“ im traditionsbeladenen Gewandhaus. Das war eine spannende Zeit. Der DDR-Rundfunk wollte Konzertberichte aus erster Hand. Also habe ich durch „Learning by Doing“, anfangs mit Lampenfieber vor dem Mikrofon, das im Radio gemacht. Ich durfte sogar, was für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich war, live auf Sendung gehen. Der Sender Leipzig hatte während der Messe ein eigenes Programm, die Messewelle, mit internationaler Musik und Werbung. Da war das Programm tatsächlich weltoffen, zweimal im Jahr je eine Woche. An manchen Tagen war ich da mit vier Reportagen vertreten.
Parallel haben Sie weiter für das Gewandhaus gearbeitet?
In erster Linie war ich festangestellt als Gewandhausdramaturg, beim Rundfunk freier Mitarbeiter.
Haben Sie schon als Kind und Jugendlicher viel Radio gehört?
In meinem Kinderzimmer stand der alte Volksempfänger meiner Großeltern. Mit dem konnte ich über Mittelwelle Deutschlandfunk und andere Sender hören. Das Radio lief immer, wenn ich an meiner Modelleisenbahn bastelte. Der Klang war nicht gut, aber das hat mich nicht gestört.
Haben Sie auch da schon vor allem klassische Musik gehört oder auch Rock und Pop?
Sowohl als auch. Später habe ich die Musik mitgeschnitten, mit einem Studio-Tonbandgerät. Meine Mutter war Schauspielerin und hatte die Bandmaschine zum Erarbeiten von Rollen. Das war die große Zeit der Beatles und anderer Gruppen.
Welche Rolle spielte der Staatsrundfunk für die DDR-Bürger?
Es gab mehrere Sender. Der Rundfunk der DDR hatte Landesfunkhäuser, unter anderem in Leipzig. Von denen kamen die regionalen Kultursendungen, die hatten eigene Programmfenster mit Konzerten. Der Berliner Rundfunk und der Deutschlandsender waren eher gesellschaftlich-kulturell strukturiert. Die Stimme der DDR war die Staatstrompete. Man hat sich jeweils gezielt herausgesucht, was man hören wollte.
Das waren typische Einschaltradios, man wusste immer ganz genau, welche Sendungen man hören wollte oder wann man das Radio lieber abschaltete.
War die Freiheit für Sie als Radiomacher in der Kultur größer als in anderen Bereichen?
Man hatte die Schere im Kopf und wusste, was geht und was nicht. Wenn etwas nicht ging, hat man es umschrieben und alle haben verstanden. Die Ossis konnten zwischen den Zeilen lesen und hören. Etwas Nichtgesagtes, eine Pause, ein Atmer, eine Metapher können in einer Diktatur eine große Aussage haben.
Gab es Vorgaben von oben oder konnten Sie sich Ihre Themen frei suchen?
Meine Themenvorschläge konnte ich immer umsetzen. Im Gewandhaus gastierten viele Künstler aus der westlichen Welt. Mit denen konnte ich ganz zwanglos Interviews führen, da gab es nie eine Einflussnahme. Ich habe z. B. mal Yehudi Menuhin interviewt. Der sagte ins Mikrofon: „Mein Schwert ist mein Geigenbogen, auch ihr habt viele Geigenbögen im Orchester.“ Das Gewandhaus war natürlich eine Insel. Dass ich als Dramaturg auch in den Westen reisen durfte, eröffnete mir schon zu DDR-Zeiten eine eigene Sicht auf die Dinge.
1990 gingen Sie ganz zum Rundfunk, zunächst als Kulturredakteur, dann als Hauptabteilungsleiter Kultur beim 3. Programm von Sachsen Radio. Wie war die Stimmung damals dort?
Es war die größte Aufbruchstimmung, die ich in meinem Leben erfahren durfte. Quasi in Nacht- und Nebelaktionen entwickelte eine Handvoll eingeweihter Redakteure aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt binnen weniger Tage klammheimlich ein Programmschema für einen Kultursender. Doch was nutzte uns das größte Engagement, wenn die Frequenzen in Sachsen immer noch vorrangig zur Ausstrahlung der zentralen Berliner Sender dienten. Ohne Antrag und Bürokratie haben wir die sächsischen Frequenzen, auf denen jahrzehntelang Radio DDR II aus Berlin sendete, einfach okkupiert. Während Berlin noch eine Vorschau auf sein Abendprogramm brachte, wurden wenige Sekunden vor der Aufschaltung unseres Kulturkanals die Berliner Übertragungsleitungen mitten im Wort gekappt. Punkt 19.00 Uhr folgte dann erstmals die Senderkennung und das Programm von „Sachsen 3 – Kultur“ aus Leipzig.
Waren beim Sachsen Radio und später beim MDR viele Mitarbeiter, die schon für den DDR-Rundfunk gearbeitet hatten?
Der feste Stamm der Redakteure des Senders Leipzig wurde 1990/91 durch zahlreiche Neueinstellungen ergänzt. Jedoch wurde ihnen allen 1991 vor Gründung des MDR im Auftrag des aus Bayern kommenden Rundfunkbeauftragten für die neuen Länder, Rudolf Mühlfenzl, gekündigt. Für den MDR, der am 1. Januar 1992 auf Sendung ging, mussten sie sich neu bewerben. Alle Führungskräfte wurden zudem drei Mal im Laufe der Jahre von der Gauck-Behörde überprüft.