Ein wesentliches Element der Jugendkultur in der DDR, so kann man „Jugendstudio DT64“ bezeichnen. Beim Jugendprogramm des DDR-Hörfunks kamen Tabuthemen auf den Tisch, es wurde mit Musik zum Teil politisch kommentiert und erstmals im DDR-Hörfunk live diskutiert. Heiko Hilker kennt DT64 wie kaum ein Zweiter: Er war unter anderem von 1991 bis 1993 bundesweiter Koordinator der DT64-Freundeskreise und begann später ein Projekt zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Jugendmedien. In Politik & Kultur gibt er Einblick in den Jugendsender.
Was machte DT64 aus, das Jugendprogramm des DDR-Hörfunks?
Bis 1989 waren Platz und Aufgabe des Jugendstudios DT64 im System der DDR-Massenmedien durch die SED fest zugewiesen, wenn auch ambivalent. Jahrelang war das „Ost-West-Rockgemisch als Kleister für ideologische Plakate“ gedacht, so Christoph Dieckmann 1991. Der Auftrag lautete, die Jugend auf Ideologien und Staatsideen einzuschwören, sie in Schule, Betrieb und Freizeit journalistisch zu begleiten, immer entsprechend der propagandistischen Linie der FDJ und damit der SED.
Da die Jugend sich irren durfte, wenn am Ende der Abweichung die Besserung stand, konnte bei DT64 schon immer kontroverser und offener diskutiert werden als woanders. Eine vertiefende Wirkung erzielte der Sender vor allem durch die Musik. So entwickelte sich das Programm von DT64 in den letzten Jahren der DDR zu einem streitbaren Ort der Selbstverständigung junger Leute über ihren Platz in Arbeit und Freizeit, Geschichte und Gegenwart, Deutschland und der Welt. Der Sender stand mit seinem Programm oft im Kreuzfeuer der Kritik der Führung der SED, doch „DT64 im Nachhinein als subversiven Heldenfunk zu feiern ist nicht angemessen. Der Sender löckte aber gegen die schildbürgerliche DDR-Medien-Doktrin, die da hieß: Was unsere Menschen bewegt, bestimmen wir. DT64 offenbarte ein Desinteresse an Ernteberichten, Bauarbeiter-Manifestationen und ähnlichem historischen Optimismus“, so Christoph Dieckmann weiter. Dafür wurden Tabuthemen angesprochen, Homosexualität, Ausländerfeindlichkeit wie auch die Heimatlosigkeit und die Lausitzer, deren Dörfer der Braunkohle zum Opfer fielen.
Wie hat sich DT64 seit der Gründung 1964 entwickelt? Inwieweit lassen sich daran exemplarisch allgemeine Entwicklungen des Hörfunks in der DDR ableiten?
DT64 startete am 15. Mai 1964 als ein Sondersender zum Deutschlandtreffen in Berlin und sendete 99 Stunden ohne Sendepause. Da die Resonanz groß war, durfte „Jugendstudio DT64“ schon wenige Wochen später, ab dem 29. Juni 1964, wöchentlich 10 Sendestunden beim Berliner Rundfunk senden. Am 1. September 1981 startete DT64 ein erweitertes Abendprogramm. 1987 erhält DT64 einen eigenen Studiokomplex und kann so ab 1. Dezember 20 Stunden am Tag senden.
Das neue Programmschema beruhte unter anderem auf Studien und Befragungen der Jugendforscherinnen und -forscher des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig. Diese hatten festgestellt, dass Jugendliche sich Nachrichten knapper und flapsiger und „West“-Musik zum Mitschneiden wünschen.
Was gab es bei DT64 zu hören und wer hörte DT64?
DT64 war ein Sender, der mit seinem gesamten Programm versuchte, die Jugend als Zielgruppe zu erreichen. Doch man erreichte hauptsächlich nur die Leute, die die DDR nicht abschaffen, sondern verbessern wollten.
DT64 setzte Trends. Es war der erste DDR-Sender, in dem Live-Diskussionen zu politischen Themen mit Hörerinnen und Hörern stattfanden. Man griff als erster Sender verpönte oder verdrängte Themen auf, half Jugendlichen, die sich postalisch gemeldet hatten, bei der Lösung von Problemen. Man kommentierte mit Musik, die DDR-Kunst und rare Botschaft aus einer versagten Welt lieferte, und bot in liebevollen Porträts und zahllosen Mitschnittsendungen das, was nicht in ostdeutschen Plattenläden stand. Es war auch der einzige Sender, in dem DDR-Punk- und Garagenbands auf einem Sendeplatz Legalität fanden: samstags kurz vor Mitternacht.
Welche Bedeutung kommt DT64 retrospektiv zu?
Auch wenn DT64 manches infrage und zur Diskussion stellte: Bis 1989 hatte das Programm eine systemstabilisierende Funktion. Doch innerhalb weniger Monate, beginnend im Herbst 1989, vollzog DT64 eine innere Reform. Nach der Abwahl der Intendanz am 8.11.1989 folgte eine Zeit der journalistischen Selbstverwaltung. DT64 wurde zum Massenprogramm und so für ca. eine Million vorwiegend junge Hörerinnen und Hörer zum Wegbegleiter und Orientierungshilfe in die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Doch das Programm wurde durch den Einigungsvertrag zur Disposition gestellt. Über 80 DT64-Freundeskreise in Ost und West sammelten über 300.000 Unterschriften für den Erhalt des Senders. Sie organisierten Demonstrationen und Mahnwachen, besetzten Staatskanzleien. Der selbst verwaltete Hörerklub hatte über 5.000 Mitglieder. Über 300 Leute kamen zu Hörertreffen und diskutierten mit den Macherinnen und Machern das Programm. DT64 war ein soziales Netzwerk in einer Zeit, als es noch keine „sozialen Netzwerke“ gab. Doch dem war keine Zukunft beschieden. Der MDR übernahm am 1. Januar 1992 das Programm, benannte es 1993 um und strahlte es nur noch über Satellit aus. Heute sendet es als „Sputnik“ aus Halle.
Die Auseinandersetzung um DT64 waren im Herbst vor jetzt genau 30 Jahren auf dem Höhepunkt. Heutzutage nutzen ARD und ZDF fast jedes Jubiläum, um daraus einen Schwerpunkt zu machen. Zu DT64 schweigt man aktuell.
Doch ein Blick zurück könnte offenbaren, unter welchen Voraussetzungen Medien der öffentlichen und individuellen Meinungs- und Willensbildung, also der Demokratie, dienen können. Nicht alles muss neu erfunden werden. Oftmals hilft es mehr, sich auf seine Wurzeln zu besinnen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.