Steffen Lieberwirth und Ludwig Greven - 29. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

100 Jahre Radio

„Ein ungeheures Kraftpotenzial“


Steffen Lieberwirth im Gespräch

Der ehemalige Musikchef des Kulturprogramms von Sachsen Radio und des MDR, Steffen Lieberwirth, spricht mit Ludwig Greven über die wilde Zeit im Radio nach der Wende, die heutigen Formatprogramme und die Bedeutung regionaler Kultur für die Hörer.

 

Ludwig Greven: Nach einem Musikwissenschaft- und Germanistikstudium an der Leipziger Karl-Marx-Universität haben Sie zunächst in der Konzert- und Gastspieldirektion Leipzig gearbeitet und dann ab 1979 für das DDR-Radio. Wie kam es zu diesem Wechsel?

Steffen Lieberwirth: Meine erste Stelle trat ich aufgrund der in der DDR üblichen Absolventenlenkung an. Das Gute war, dass ich dort Musikprogramme entwickeln durfte und Gewandhauskapellmeister Kurt Masur dadurch auf mich aufmerksam wurde. Das Neue Gewandhaus stand damals kurz vor seiner Einweihung. In meiner Diplomarbeit hatte ich mich mit den Stadtpfeifern beschäftigt, den Vorläufern des Gewandhausorchesters. Mein Umgang mit dem Thema gefiel ihm, denn das neue Haus sollte mit frischen Ideen gefüllt werden und auch junge Leute ansprechen. So wurde ich mit 29 Jahren einer seiner „jungen Wilden“ im traditionsbeladenen Gewandhaus. Das war eine spannende Zeit. Der DDR-Rundfunk wollte Konzertberichte aus erster Hand. Also habe ich durch „Learning by Doing“, anfangs mit Lampenfieber vor dem Mikrofon, das im Radio gemacht. Ich durfte sogar, was für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich war, live auf Sendung gehen. Der Sender Leipzig hatte während der Messe ein eigenes Programm, die Messewelle, mit internationaler Musik und Werbung. Da war das Programm tatsächlich weltoffen, zweimal im Jahr je eine Woche. An manchen Tagen war ich da mit vier Reportagen vertreten.

 

Parallel haben Sie weiter für das Gewandhaus gearbeitet?

In erster Linie war ich festangestellt als Gewandhausdramaturg, beim Rundfunk freier Mitarbeiter.

 

Haben Sie schon als Kind und Jugendlicher viel Radio gehört?

In meinem Kinderzimmer stand der alte Volksempfänger meiner Großeltern. Mit dem konnte ich über Mittelwelle Deutschlandfunk und andere Sender hören. Das Radio lief immer, wenn ich an meiner Modelleisenbahn bastelte. Der Klang war nicht gut, aber das hat mich nicht gestört.

 

Haben Sie auch da schon vor allem klassische Musik gehört oder auch Rock und Pop?

Sowohl als auch. Später habe ich die Musik mitgeschnitten, mit einem Studio-Tonbandgerät. Meine Mutter war Schauspielerin und hatte die Bandmaschine zum Erarbeiten von Rollen. Das war die große Zeit der Beatles und anderer Gruppen.

 

Welche Rolle spielte der Staatsrundfunk für die DDR-Bürger?

Es gab mehrere Sender. Der Rundfunk der DDR hatte Landesfunkhäuser, unter anderem in Leipzig. Von denen kamen die regionalen Kultursendungen, die hatten eigene Programmfenster mit Konzerten. Der Berliner Rundfunk und der Deutschlandsender waren eher gesellschaftlich-kulturell strukturiert. Die Stimme der DDR war die Staatstrompete. Man hat sich jeweils gezielt herausgesucht, was man hören wollte.

Das waren typische Einschaltradios, man wusste immer ganz genau, welche Sendungen man hören wollte oder wann man das Radio lieber abschaltete.

 

War die Freiheit für Sie als Radiomacher in der Kultur größer als in anderen Bereichen?

Man hatte die Schere im Kopf und wusste, was geht und was nicht. Wenn etwas nicht ging, hat man es umschrieben und alle haben verstanden. Die Ossis konnten zwischen den Zeilen lesen und hören. Etwas Nichtgesagtes, eine Pause, ein Atmer, eine Metapher können in einer Diktatur eine große Aussage haben.

 

Gab es Vorgaben von oben oder konnten Sie sich Ihre Themen frei suchen?

Meine Themenvorschläge konnte ich immer umsetzen. Im Gewandhaus gastierten viele Künstler aus der westlichen Welt. Mit denen konnte ich ganz zwanglos Interviews führen, da gab es nie eine Einflussnahme. Ich habe z. B. mal Yehudi Menuhin interviewt. Der sagte ins Mikrofon: „Mein Schwert ist mein Geigenbogen, auch ihr habt viele Geigenbögen im Orchester.“ Das Gewandhaus war natürlich eine Insel. Dass ich als Dramaturg auch in den Westen reisen durfte, eröffnete mir schon zu DDR-Zeiten eine eigene Sicht auf die Dinge.

 

1990 gingen Sie ganz zum Rundfunk, zunächst als Kulturredakteur, dann als Hauptabteilungsleiter Kultur beim 3. Programm von Sachsen Radio. Wie war die Stimmung damals dort?

Es war die größte Aufbruchstimmung, die ich in meinem Leben erfahren durfte. Quasi in Nacht- und Nebelaktionen entwickelte eine Handvoll eingeweihter Redakteure aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt binnen weniger Tage klammheimlich ein Programmschema für einen Kultursender. Doch was nutzte uns das größte Engagement, wenn die Frequenzen in Sachsen immer noch vorrangig zur Ausstrahlung der zentralen Berliner Sender dienten. Ohne Antrag und Bürokratie haben wir die sächsischen Frequenzen, auf denen jahrzehntelang Radio DDR II aus Berlin sendete, einfach okkupiert. Während Berlin noch eine Vorschau auf sein Abendprogramm brachte, wurden wenige Sekunden vor der Aufschaltung unseres Kulturkanals die Berliner Übertragungsleitungen mitten im Wort gekappt. Punkt 19.00 Uhr folgte dann erstmals die Senderkennung und das Programm von „Sachsen 3 – Kultur“ aus Leipzig.

 

Waren beim Sachsen Radio und später beim MDR viele Mitarbeiter, die schon für den DDR-Rundfunk gearbeitet hatten?

Der feste Stamm der Redakteure des Senders Leipzig wurde 1990/91 durch zahlreiche Neueinstellungen ergänzt. Jedoch wurde ihnen allen 1991 vor Gründung des MDR im Auftrag des aus Bayern kommenden Rundfunkbeauftragten für die neuen Länder, Rudolf Mühlfenzl, gekündigt. Für den MDR, der am 1. Januar 1992 auf Sendung ging, mussten sie sich neu bewerben. Alle Führungskräfte wurden zudem drei Mal im Laufe der Jahre von der Gauck-Behörde überprüft.

Wie leicht fiel der Übergang in die neue Freiheit des Radios?

Wir hatten zum ersten Mal die Chance, unserer Kreativität völlig freien Lauf zu lassen. Das hatte ein ungeheures Kraftpotenzial. Wir haben Radio gemacht, so wie wir es wollten. Es war „unser Sender“. Wir haben versucht, die ganze Breite der Gesellschaft darzustellen. Es gab z. B. eine Sendung „Liebes Volk“, in der sich jeder zu Wort melden konnte. Da ist ein Kaleidoskop der gesellschaftlichen Stimmung entstanden, wie ich es nie wieder erlebt habe. Es war für die Bürger völlig unvorstellbar, dass sie vor dem Mikrofon nun alles sagen konnten, unzensiert!

Die besten Beiträge sind auch als Buch erschienen. Auch musikalisch haben wir die ganze Bandbreite abgebildet, neben Klassik auch Jazz und Folk. Bis heute.

 

Wie sahen Sie Ihre eigene Rolle? Wollten Sie einfach nur gutes Radio machen oder auch zu Veränderungen beitragen?

Wir waren überzeugt, dass wir etwas zu sagen haben und dass das in komplizierter Zeit vor allem identitätsstiftend und hörerbindend sein sollte. Wir wollten auch musikalisch eine Heimat anbieten mit unserer regionalen Schiene.

 

Als Sachsen Radio im MDR aufging, war es da vorbei mit der großen Freiheit?

Im Gegenteil. Es wurde zum durchmoderierten Tagesprogramm ausgeweitet, mit Magazinen und vielen Wortbeiträgen. Ein großer Bogen über das gesellschaftliche und kulturelle Leben. Musikalisch wurde es noch spannender, weil Thüringen und Sachsen-Anhalt mit ihren Schätzen dazukamen. Wir hatten in jedem der drei Bundesländer Korrespondenten und wir hatten unsere Klangkörper: ein Sinfonieorchester, einen Kinderchor und den großartigen Rundfunkchor. 1993 haben wir ein europäisches Musikfestival aus München übertragen, mit Orchestern aus ganz Europa und 31 Konzerten an 33 Tagen. Der BR sah sich wohl aus gewerkschaftlichen Gründen nicht dazu in der Lage. Aber unsere Hörfunkdirektorin hat gesagt, wir schaffen das. Wir sind mit unserem alten DDR-Ü-Wagen hingefahren und haben alle Konzerte fehlerfrei und live ausgestrahlt. Im BR hieß es: „Nun schalten wir um zum MDR ins Prinzregententheater oder in den Gasteig.“ In den Münchener Zeitungen stand: „Der MDR gibt in München den Ton an.“

 

Die meisten Führungskräfte kamen wie der erste Intendant Udo Reiter aus dem Westen. Gab es Spannungen mit den Mitarbeitern wie Ihnen aus der ehemaligen DDR?

Wir verstanden uns als die Platzhirsche, als die Macher. In unseren Augen waren Reiter und die anderen Direktoren „Zugereiste“. Reiter hat klug agiert, uns in programmlichen Dingen weitermachen lassen und uns finanziell großzügig ausgestattet. Die Leute aus dem Westen brachten das technische Know-how mit, das uns fehlte. Wir bekamen ein hochmodernes Studio, bis dahin hatten wir noch analog vom Band gesendet. Wir konnten aus dem Vollen schöpfen. Aber es gab natürlich auch die „Besserwessis“, vor allem im Verwaltungsapparat.

 

Wieso bekamen Sie keinen West-Vorgesetzten?

In der Regel waren die Führungskräfte tatsächlich aus dem Westen, die Stellvertreter aus dem Osten. „Tandemlösung“ nannte sich das. In meinem Fall war das anders. Ich hatte durch das Gewandhausorchester einen sehr guten Freund, Hermann Backes, Cellist und kommissarischer Intendant der Düsseldorfer Symphoniker. Ihn habe ich gefragt, ob er zu uns nach Leipzig als mein Stellvertreter kommen wolle. Denn ich hatte ja von westdeutschen Leistungsschutzrechten und den neuen Tarifen für Orchester und Musiker noch wenig Ahnung. Als ich meinen Personalwunsch der Hörfunkdirektorin vortrug, war zunächst nachdenkliche Stille. Denn damit würde ich die Hauspolitik auf den Kopf stellen. Schließlich wurde es akzeptiert.

 

Haben Hörerinnen und Hörer in den neuen Ländern andere musikalische Vorlieben als im Westen?

Nein, das glaube ich nicht. Wir verstanden uns als Radio „zum Zuhören“ mit langen Sendeplätzen und moderierten monothematischen Stundensendungen.

 

Also eine starke Hörerbindung auch über Personen.

Jeder Redakteur verantwortete programmgestaltend und authentisch seine eigene Sendung, mit der er natürlich auch identifiziert wurde. Auch haben wir verrückte Sachen gemacht, z. B. eine Sendung mit den Hymnen untergegangener Staaten. Oder wir haben uns bestimmte Epochen vorgenommen: Wie sah es in Dresden nach dem Krieg aus, wie fing das Musikleben dort wieder an? Mit viel Hintergrund- und Fakteninformationen. Die Hörer haben begeistert reagiert. Radio ist Kino im Kopf, da kann man ausschweifend experimentieren.

 

Heute wirkt der MDR nicht mehr so.

Die Entwicklung und Hörerwartungen machen auch nicht vor dem Radio halt. Seit 2017 bündelt der MDR die Klassik im Hörfunk und online in einer eigenen digitalen Welle. Hier finden auch das MDR-Sinfonieorchester, der MDR-Rundfunkchor und der MDR-Kinderchor sowie das Musikfestival MDR-Musiksommer ihre Sendeplätze. Bei MDR Kultur ist wie bei vielen Kulturkanälen zu beobachten, dass die Programme zunehmend formatiert daherkommen. Durchhörbarkeit, Mainstream und die Hoffnung, der Hörer möge viele Stunden dranbleiben, dominieren das Tagesprogramm. Das Urige, das Überraschende, das Eigene geht dabei verloren. Ich glaube aber an die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Kulturwellen, denn sie sind wichtig für unsere auseinanderdriftende Gesellschaft! Sie haben eine große Chance zur Akzeptanz, wenn sie sich ihrer Authentizität bewusst sind und sich nicht allein vom Quotendenken leiten lassen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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