Nothilfe jetzt, Integration als langfristige Aufgabe

Deutscher Kulturrat zur aktuellen Flüchtlingssituation und der kulturpolitischen Verantwortung für die kulturelle Vielfalt

Berlin, den 30.09.2015. Die weltweiten Krisen, Bürgerkriege und wirtschaftliche Ungleichheit führen dazu, dass mehr und mehr Menschen ihre Heimat verlassen, flüchten oder auch vertrieben werden. Weltweit befinden sich nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) derzeit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht.

 

Deutschland war noch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts ein Auswanderungsland. Wirtschaftliche Not, politische oder religiöse Verfolgung haben dazu geführt, dass Menschen aus Deutschland ausgewandert sind. Die Verfolgung von Juden, Sinti und Roma, von Andersdenkenden und von Künstlern und Kulturschaffenden durch die Nationalsozialisten stehen für ein besonders düsteres Kapitel der deutschen Geschichte. Das Asylrecht (Politisch Verfolgte genießen Asyl. Art. 16a (1) GG) der Bundesrepublik Deutschland steht in direktem Zusammenhang mit der Verfolgung im Nationalsozialismus.

 

Unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs hat die Bundesrepublik Deutschland in großem Umfang Vertriebene und Flüchtende aufgenommen. Auch in den nachfolgenden Jahrzehnten flüchteten in jeweils unterschiedlicher Stärke Menschen in die Bundesrepublik Deutschland bzw. reisten in diese ein. Zu nennen sind etwa Menschen, die die DDR verließen, Spätaussiedler aus Russland, Rumänien oder auch Polen, die sogenannten Boat People der 1970er Jahre aus Vietnam, russische Juden in den 1990er Jahren und andere mehr. Rückblickend zeigt sich, dass trotz nach wie vor im Einzelnen bestehender Defizite im Großen und Ganzen die Zuwanderung gelungen ist und Deutschland faktisch ein Einwanderungsland ist. Dies erfordert die Bereitschaft zum Leben in kultureller Vielfalt und den toleranten Umgang miteinander.

 

Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Kulturverbände, hat in einem mehrjährigen Dialogprozess mit Migrantenverbänden zwei Stellungnahmen zur interkulturellen Bildung erarbeitet, in denen der konkrete Handlungsbedarf von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden und Kultureinrichtungen zur kulturellen Bildung in einer von kultureller Vielfalt geprägten Gesellschaft zusammengeführt ist. Sowohl die Stellungnahme „Lernorte interkultureller Bildung im vorschulischen und schulischen Kontext“ vom 08.10.2010 als auch die Stellungnahme „Lernorte interkultureller Bildung“ vom 29.06.2011 haben an Bedeutung nicht verloren.

 

Mit Blick auf die aktuelle Ankunft sehr vieler Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, stellt der Deutsche Kulturrat fest:

  • das große bürgerschaftliche Engagement beim Empfang, der Unterbringung und den Hilfeleistungen für Geflüchtete beweist die Stärke der Zivilgesellschaft und zeigt, dass insbesondere die organisierte Zivilgesellschaft einen unverzichtbaren Beitrag für das Gemeinwesen leistet,
  • das Engagement vieler Bildungs- und Kultureinrichtungen belegt, wie sehr sich auch der Kulturbereich gefordert sieht, seinen Beitrag zur Teilhabe und Integration von Flüchtlingen zu leisten,
  • die vergleichsweise hohe Zahl an Asylanträgen und die hohe Belastung der damit betrauten Behörden dürfen nicht zu einer Absenkung der ordnungsgemäßen Prüfung führen, da das verfassungsrechtlich zugesicherte Asylrecht ein hohes Gut ist,
  • fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen und Angriffen muss entschieden entgegen getreten werden.

 

Der Deutsche Kulturrat fordert:

  • verstärkt in Flüchtlingsunterkünften mit Mitteln von Kunst und Kultur zu arbeiten,
    • denn künstlerische Ausdrucksformen bieten die Möglichkeit traumatische Erlebnisse zu verarbeiten,
    • denn die aktive Beschäftigung mit Kunst und Kultur vertreibt die Langeweile und das Warten in Flüchtlingsunterkünften,
    • denn künstlerische oftmals auch nonverbale Mittel können zur Verständigung beitragen
  • bereits bestehende Aktivitäten auszubauen und Künstler sowie Kultur- und Bildungseinrichtungen gezielt zu ermutigen, sich in ihren Institutionen und in Flüchtlingsunterkünften zu engagieren,
  • die eigenen Mitglieder auf, geeignete Angebote für Zuflucht suchende Menschen zu entwickeln, um ihnen das Ankommen in Deutschland zu erleichtern,
  • einen sensiblen Umgang mit Sprache und Bildern, wenn von geflüchteten Menschen die Rede ist. Hier sind insbesondere die Medien, Zeitungen und audiovisuelle Medien gefordert. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk könnte hier beispielhaft wirken,
  • die Verankerung von Deutsch als gemeinsamer Sprache im Grundgesetz. Die deutsche Sprache ist ein wesentliches kulturelles Bindeglied in Deutschland und sollte daher eine besondere Beachtung erfahren.

 

Der Deutsche Kulturrat fordert Bund, Länder und Kommunen auf, die Bildungs- und Kultureinrichtungen in die Lage zu versetzen, die Chancen und Herausforderungen im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunftskulturen mitzugestalten bzw. bewältigen zu können. Hierzu gehört auch die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für qualifiziertes Personal und Sachmittel.

 

Neben der aktuellen Hilfe für jetzt Flüchtende dürfen die Fluchtursachen nicht aus den Augen verloren werden. Ursachen für Flucht sind Bürgerkriege wie aktuell in Syrien, politische Instabilität vieler Länder, die Verfolgung Andersdenkender sowie ein ungerechter Welthandel. Bilaterale Freihandelsabkommen zwischen entwickelten Industrienationen bergen die Gefahr, dass der Marktzugang für Schwellen- und Entwicklungsländer noch mehr erschwert wird. In diesem Sinne kann sich das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA TTIP besonders negativ auswirken.

 

Über die aktuelle Situation der Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen sowie der Durchführung von deren Asylverfahren hinaus ist die Integration der nach Deutschland kommenden Menschen eine langfristige Aufgabe.

Sehr viele Menschen, die derzeit als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, werden dauerhaft in Deutschland bleiben. Sie werden unsere Kultur und unser Zusammenleben bereichern und verändern. Diesen Veränderungsprozess gilt es aktiv zu gestalten. Der Kulturbereich ist hier besonders gefordert und stellt sich dieser Herausforderung.

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