Wenn gestandene Konservative, die sich bislang stets gegen die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare gewehrt haben und die verbindliche Quoten für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Führungsetagen der Wirtschaft für überflüssig halten, auf einmal von dem Problem reden, dass Flüchtlinge aus muslimisch geprägten Ländern weder die Gleichberechtigung von Mann und Frau noch die gleichgeschlechtlicher Paare anerkennen, haben sie entweder ihre Ansichten radikal geändert oder es ist eine Menge Bigotterie im Spiel.
Seit gut zwei Monaten beherrscht ein Thema die politischen Diskussionen: wohin mit den Flüchtlingen und wie viele mögen wohl noch kommen? Deutschland als Land in der Mitte Europas ohne EU-Außengrenzen, ohne unmittelbare Nachbarschaft zu Krisenregionen blieb über viele Jahre verschont von der Anforderung, eine Antwort auf die Fluchtbewegungen aus den Ländern des Südens zu geben. Mit Schaudern und Entsetzen konnte sich empört werden, wenn Menschen im Mittelmeer ertranken, weil ihre Boote nicht seetüchtig waren. Die italienische Regierung konnte als unfähig gescholten werden, wenn vor Lampedusa Menschen starben oder aber die Grenzorgane weder mit der Unterbringung geschweige denn der Erfassung von Flüchtlingen nachkamen. Geschützt durch das Schengen-Abkommen, das die Sicherung der EU-Außengrenzen jenen Mitgliedstaaten zuweist, die eine EU-Außengrenze haben, und abgesichert durch das Dublin-Abkommen, dass Flüchtlinge verpflichtet, in jenem Land, in dem sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben, den Asylantrag zu stellen, konnte in Deutschland die „Moralkeule“ mit leichter Hand geschwungen werden.
Dies alles änderte sich mit der Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel, das Dublin-Abkommen aufzuweichen und syrischen Flüchtlingen den Weg nach Deutschland zu öffnen, weil offenkundig die ungarische Regierung überfordert und unwillig war und eine humanitäre Katastrophe drohte. Seither erreichen nicht nur täglich sehr viele Menschen Deutschland, seither stellt sich auch für Deutschland die ganz praktische Frage, wo die Menschen untergebracht werden, wie ihre Asylanträge, so sie denn welche stellen, bearbeitet werden, wie Kinder beschult werden können und wie Integration gelingen kann. Die Diskussionen finden im breiten Spektrum zwischen Angst vor einer „Überfremdung“ und rosaroten Träumen einer „Transkultur“ statt. So absurd manche Äußerungen auch sein mögen, eines wird deutlich: Es bedarf einer Wertedebatte. Einer Wertedebatte, die weder im Zuge der deutschen Einheit noch in der Verwirklichung des Binnenmarkts und schon gar nicht im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union geführt wurde. Einer Wertedebatte, die auch reflektiert, welche Verantwortung das wiedervereinigte Deutschland in der Welt annimmt.
„Hier ist eine Wertedebatte notwendig. Zu der auch die Verteidigung der Meinungsfreiheit gehört, selbst wenn einem die Meinung der anderen nicht passt.“
Im 25. Jahr der deutschen Einheit rächt sich, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor allem unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet wurde, dass vorschnell aus der gemeinsamen deutschen Sprache geschlossen wurde, es gäbe tatsächlich eine gemeinsame Sprache mit einer gleichen Semantik. Weder fand die von einigen eingeforderte Verfassungsdiskussion statt, noch wurde eine ehrliche Wertedebatte geführt. Überwältigt von der Chance vierzig Jahre deutsche Teilung zu überwinden und angetrieben von schnell erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen wurde im Kern erwartet, dass westdeutsche Werte gleichermaßen in Ostdeutschland zum common sense gehören. Dass dies voreilig war, war bereits in den 1990er Jahren zu erkennen und wird nun offenkundig. Man mag zwar den Kopf schütteln, dass in Gegenden, in denen so gut wie keine Muslime leben und ein erheblicher Teil der Bevölkerung keiner Glaubensgemeinschaft angehört, auf einmal von einer Islamisierung und der Bedrohung des Christentums die Rede ist, dennoch wäre es kurzsichtig, daraus den Schluss zu ziehen, sich mit dem offenkundigen Gefühl vieler ostdeutscher Menschen zu kurz gekommen zu sein, nicht auseinandersetzen zu müssen. Hier ist eine Wertedebatte notwendig. Zu der auch die Verteidigung der Meinungsfreiheit gehört, selbst wenn einem die Meinung der anderen nicht passt.
Ebenso wichtig ist aus meiner Sicht eine Wertediskussion in der Europäischen Union. Zwar mag noch so oft beschworen werden, dass Europa mehr ist als ein Binnenmarkt und eine große Verteilungsmaschinerie von Subventionen. Dennoch ist das gemeinsame Wertefundament, wie sich aktuell in der Flüchtlingsverteilungsdebatte zeigt, sehr dünn. Es zeichnet sich ein Gegensatz zwischen westeuropäischen Staaten, dem sogenannten Kerneuropa, Großbritannien und den neuen Mitgliedstaaten aus Osteuropa ab. Jene Länder sehen sich offenbar weder in der Verantwortung noch in der Pflicht in größerem Umfang Flüchtlinge aufzunehmen. Sie scheinen in erster Linie an der ökonomischen Integration interessiert zu sein und weniger an einem Europa, das auf einem gemeinsamen Wertefundament beruht. Da hilft auch der Verweis auf die Europäische Grundcharta wenig, wenn Mitgliedstaaten es sich erlauben können, Grundrechte, wie Meinungsfreiheit und Recht auf Asyl, mit Füßen zu treten. Will Europa in der Zukunft glaubwürdig in der Welt für Werte eintreten, ist eine innereuropäische Debatte zu den gemeinsamen Werten von Nöten.
„Es ist fast zynisch festzustellen, dass diese Lösungen erst in dem Moment dringlicher wurden, als Zehntausende Menschen auf ihrer monatelangen Flucht Deutschland erreichten.“
Dieses gilt auch mit Blick auf die Außenbeziehungen und damit ist die Verantwortung Europas und auch Deutschlands für die Welt angesprochen. Dazu gehört z. B. auch, sich nachhaltig für Lösungen im syrischen Bürgerkrieg einzusetzen. Es ist fast zynisch festzustellen, dass diese Lösungen erst in dem Moment dringlicher wurden, als Zehntausende Menschen auf ihrer monatelangen Flucht Deutschland erreichten. Oder um es drastisch zu formulieren: Der syrische Bürgerkrieg war so lange kein drängendes Problem, wie Flüchtlinge in jordanischen, libanesischen und türkischen Flüchtlingslagern ausharrten. Eines ist klar, Lösungen bedürfen Geduld und viel Überzeugungskraft. Schnelle Erfolge sind kaum zu erwarten. Aber auch hier würde eine Wertedebatte bei der Lösung von Konflikten helfen.
Verantwortung für die Welt zeigt sich aber auch in den Handelsbeziehungen. Der Einsatz für einen fairen und gerechten Welthandel ist eben nicht nur eine Formel für Kirchentage oder Eine-Welt-Läden. Es sollte das ureigenste Interesse der Politik sein, für einen fairen und gerechten Welthandel einzutreten, denn nur er wird es den Ländern des Südens ermöglichen, mit ihren Waren und Dienstleistungen auf dem Weltmarkt zu prosperieren. Aus ganz egoistischen Gründen müssten Deutschland und Europa sich für einen fairen Welthandel stark machen, um den Menschen im Süden Perspektiven zu bieten, damit sie dort leben, ihre Gesellschaft entwickeln und zu Wohlstand kommen. Auch hier tut eine Wertedebatte Not.
Nötig ist meines Erachtens auch eine Wertediskussion in Deutschland. Eine Verkürzung der Wertediskussion auf das Grundgesetz wäre meines Erachtens fahrlässig. Sicher der Begriff der „Leitkultur“, fast bin ich versucht zu sagen „Leidkultur“, hat ausgedient und ist politisch verbrannt. Dennoch wäre es meiner Meinung nach verkürzt, allein die Verfassung als Leitschnur hoch zu halten und damit die Diskussion zu beenden. Verfassungspatriotismus alleine schafft keine Integration. Es muss doch vielmehr darum gehen, zu debattieren, was es bedeutet, in einer multireligiösen und von vielen verschiedenen Kulturen geprägten Gesellschaft zu leben. Die Menschen, die in Deutschland Obdach und ein Zuhause suchen, haben Werte. Sie ernst zu nehmen und zu integrieren, heißt sich damit auseinanderzusetzen und die eigenen Werte selbstbewusst in die Diskussion einzubringen. Wir werden klären müssen, welche Werte wir, neben den in der Verfassung garantierten Grundrechten, als kulturelles Fundament unserer Gesellschaft für konstitutiv halten. Sich in eine solche Wertedebatte einzubringen, steht dem Kulturbereich gut an.
Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 6/2015 erschienen.