10. KW: Gewalt im Kulturbereich: Hinsehen und Handeln

Themen im Newsletter:

  1. Gewalt im Kulturbereich: Hinsehen und Handeln
  2. Schwerpunkt in Politik & Kultur 3/24: Sexualisierte Gewalt im Kulturbetrieb
  3. Jetzt auch als kostenfreie E-Books: Studie „Baustelle Geschlechtergerechtigkeit“ & Buch „Mein kulturpolitisches Pflichtenheft“
  4. Tipp: Equal Pay Day 2024: Online-Diskussion zum Nachsehen
  5. Text der Woche: Antidiskriminierungsklausel als Entschuldigungsklausel: Über ungelöste abgelöste Probleme von Johann Hinrich Claussen

 


 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

am Anfang stand der Skandal: Produzent X „bittet“ Schauspielerinnen auf die sprichwörtliche Besetzungscouch und erwartet sexuelle Dienstleistungen, damit sie die Rolle bekommen. Dem Hochschullehrer Y sind sowohl Studentinnen als auch Studenten als Sexobjekte gerade recht. Schauspieler W bevorzugt junge Männer, insbesondere jene, die sich von einer Affäre mit einem bekannten Star einen eigenen Karriereschub erhoffen und daher zu vielem bereit sind. In den vergangenen Jahren war von vielen dieser Vorfälle zu lesen. Einige führten zu rechtskräftigen Verurteilungen, und die Täter sind inzwischen im Gefängnis, bei anderen war die Rechtslage uneindeutig und – so moralisch verwerflich es auch klingen mag – auch für potenzielle Sexualstraftäter und -täterinnen gilt: „in dubio pro reo“.

 

Die Metoo-Bewegung, beginnend 2017, hat breite Diskussionen ausgelöst. Zuerst in der Öffentlichkeit; dabei spielte sicherlich eine zentrale Rolle, dass einige der Angeklagten aus der Kultur- und Medienbranche bekannt waren, denn auch beim Skandal gilt: „sex sells“.

 

Zum Glück blieb die Diskussion aber nicht beim Skandal stehen. Ziel ist es, dass Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und Diskriminierung im Kulturbereich überhaupt nicht vorkommen. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass eine breite Debatte in den künstlerischen Hochschulen, in den Kulturbetrieben, in Kulturverbänden, in der kulturellen Bildung, in den Medienunternehmen über Machtmissbrauch im Kulturbereich entstanden ist. Es wurde über sexualisierte Gewalt im Kulturbereich, über das Ausnutzen von herausgehobenen Positionen, über prekäre Arbeit, über mangelnde Kollegialität in Ensembles, über harten Wettbewerb, über Abhängigkeitsverhältnisse, über den Schutz von vulnerablen Gruppen und anderes mehr debattiert.

 

Vor allem wurden Maßnahmen ergriffen. Im Hochschulbereich ging eine der ersten Initiativen von der Bundeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten an Kunst- und Musikhochschulen aus. Sie haben eine Positionierung erarbeitet, wie künstlerische Arbeit und körperliche Nähe in der Ausbildung – insbesondere in Musik, Theater und Tanz – ohne sexuelle Belästigung gelingen muss und kann. Die staatlichen Kunst- und Musikhochschulen haben inzwischen flächendeckend Leitlinien entwickelt, die deutlich machen, dass sexualisierte Gewalt an der Hochschule nichts zu suchen hat.

 

Beschwerde- und Beratungsstellen an den Hochschulen wurden eingerichtet, an die sich betroffene Studierende wenden können. Ziel ist es, eine neue Führungs- und Lehrkultur zu etablieren. Neben künstlerischer Exzellenz der Lehrenden geht es auch um deren pädagogische Qualifikationen. In der kulturellen Kinder- und Jugendbildung wurden, nicht zuletzt ausgelöst durch die Missbrauchsskandale in den Kirchen oder auch im Sport, Schutzkonzepte für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erarbeitet. Ein besonderes Augenmerk wird hier auf Prävention und auf die Qualifizierung der haupt- und ehrenamtlichen Akteure gelegt. Kulturverbände haben Verhaltenskodices aufgestellt oder die eigenen ethischen Standards geschärft. Mit Dienstanweisungen, die sexualisierter Gewalt entgegenwirken sollen, wurde in Medienunternehmen reagiert. Die ohnehin vom Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) vorgeschriebenen Beschwerdestellen, an die sich alle wenden können, die Diskriminierung oder auch sexualisierte Gewalt erfahren haben, wurden teils erst eingerichtet, teils bekannter gemacht. Zunächst für die Film-, Fernseh- und Theaterbranche inzwischen erweitert um den Musiksektor wurde die unabhängige Beratungsstelle Themis (Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt) errichtet. Mitglieder sind Verbände und Sendeunternehmen, finanziert wird sie durch Mitgliedsbeiträge und eine Zuwendung der Beauftragten für Kultur und Medien (BKM). Themis ist darauf spezialisiert, Opfern sexualisierter Gewalt aus den ausübenden Künsten psychologischen und rechtlichen Rat zu geben und ggf. an geeignete Stellen weiter zu verweisen. Nach fünf Jahren reißt der Beratungsbedarf nicht ab und belegt, wie wichtig die unabhängige Beratung ist.

 

Wer in einer anderen künstlerischen Sparte tätig ist, also z. B. in der Literatur, der Bildenden Kunst, der Fotografie oder auch dem Design, geht leider leer aus. Hier gibt es keine vergleichbare unabhängige Beratungsstelle. Dabei ist sie im Kulturbereich besonders wichtig. Viele Betriebe oder auch Kultureinrichtungen sind sehr klein, in der Kultur- und Kreativwirtschaft liegt die durchschnittliche Betriebsgröße bei nur 5,5 Erwerbstätigen. D. h. jeder kennt jeden, eine anonyme Beschwerde ist in diesen kleinen Einrichtungen kaum möglich. Darüber hinaus sind viele gar nicht dauerhaft in einem Unternehmen oder einer Kultureinrichtung beschäftigt, viele arbeiten nur temporär – ganz abgesehen von den Soloselbstständigen, die in keinen Betriebsablauf eingebunden sind. So verdienstvoll und bedeutsam die Arbeit von Themis ist, es besteht eine große Lücke mit Blick auf die bislang noch nicht abgedeckten künstlerischen Sparten.

 

Vieles ist also schon geschehen, der Kulturwandel hat begonnen, einschließlich vermutlich kaum zu vermeidender Rückschläge, und dennoch liegt noch viel Arbeit vor allen Beteiligten, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Der Deutsche Kulturrat hat im Juni 2023 den Dialogprozess „Respektvoll Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien“ begonnen. Fast hundert Mitgliedsverbände aus den Sektionen des Deutschen Kulturrates beteiligen sich aktiv daran. Zusätzlich wird externer Sachverstand herangezogen. Thematisiert werden in diesem Dialogprozess die Spannungsfelder Prävention und sexualisierte Gewalt, Empowerment und Diskriminierung sowie Verantwortung und Machtmissbrauch. Im Juni dieses Jahres sollen die Arbeiten am Positionspapier abgeschlossen sein und es dem Sprecherrat des Deutschen Kulturrates zur Diskussion und Verabschiedung übergeben werden. Es ist geplant, diese Selbstverpflichtung einschließlich Forderungen an Politik und Verwaltung noch vor der Sommerpause der Öffentlichkeit vorzustellen.

 

Der bisherige Prozess in diesem breiten Forum belegt, wie vielschichtig die Problemlagen sind, dass Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und Diskriminierung nicht nur eine Frage von Hierarchien sind, sondern auch unter Kolleginnen und Kollegen vorkommen können, dass respektvolles Arbeiten von allen angestrebt wird, dass eingefahrene Wahrnehmungsmuster hinterfragt werden und dass es letztlich aller Orten auf eines ankommt: Hinsehen und Handeln.

 

Ihr

Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
twitter.com/olaf_zimmermann

 

PS. In Berlin ist am Freitag Feiertag, deshalb erscheint der kulturpolitische Wochenreport schon heute.

 


 

2. Schwerpunkt in Politik & Kultur 3/24: Sexualisierte Gewalt im Kulturbetrieb

 

Die März-Ausgabe von Politik & Kultur setzt sich in ihrem Schwerpunkt (Seite 5 – 27) mit dem Thema Sexualisierte Gewalt im Kulturbetrieb auseinander. In zwanzig Beiträgen wird sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema befasst. Die Beiträge verbindet, dass zum Hinsehen und Handeln aufgerufen wird.

 

Autorinnen und Autoren des Schwerpunktes sind:

 

 

 

 


 

3. Jetzt auch als kostenfreie E-Books: Studie „Baustelle Geschlechtergerechtigkeit“ & Buch „Mein kulturpolitisches Pflichtenheft“

 

Die Studie „Baustelle Geschlechtergerechtigkeit: Datenreport zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Arbeitsmarkt Kultur“ und das Buch „Mein kulturpolitisches Pflichtenheft“ stehen Ihnen sofort auch als kostenfreie E-Books (PDF-Dateien) zur Verfügung.

 

Baustelle Geschlechtergerechtigkeit

 

Im aktuellen Report werden Daten zur Zahl der Erwerbstätigen im Arbeitsmarkt Kultur, dem Frauenanteil, dem Einkommen und dem Gender-Pay-Gap zusammengestellt und bewertet. Der Datenreport geht sowohl auf Soloselbstständige als auch auf abhängig Beschäftigte im Kulturbereich ein. Der Datenreport schließt mit Vorschlägen von Gabriele Schulz und mir ab, wie die Situation zu verbessern ist.

 

 

 

Mein kulturpolitisches Pflichtenheft

 

Im letzten Jahr legte ich mein ganz persönliches kulturpolitisches Pflichtenheft vor, in dem ich zeige, welche Themen unter welchen Rahmenbedingungen die Arbeit auf der Kulturbaustelle heute bestimmen, oder bestimmen sollten. Die Themenbereiche sind: Werte, Kunst, Medien, Handel, Bildung, Religion, Erinnerung, Digitales, Natur und Nachhaltigkeit.

 

 

 


 

4. Tipp: Equal Pay Day 2024: Online-Diskussion zum Nachsehen

 

Am Dienstag, dem 5. März 2024, dem Vortag zum Equal Pay Day veranstaltete der Deutsche Kulturrat eine Online-Diskussion unter dem Titel „Was ist Frauenarbeit wert?“.

 

Katja Lucker, Geschäftsführerin der Initiative Musik, Dagmar Schmidt, Bildende Künstlerin und Sprecherin des Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler und Gabriele Schulz, Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrats diskutierten über die Fragen: Woran liegt es, dass der Gender-Pay-Gap im Kulturbereich in einigen Sparten noch immer so hoch ist? Wieso gibt es nach wie vor einen deutlichen Gender-Show-Gap? Wie kann gegengesteuert werden? Die Veranstaltung wurde von Barbara Haack moderiert.

 

Die Online-Diskussion kann hier auf dem YouTube-Kanal des Deutschen Kulturrates nachgesehen werden.

 

Hörempfehlung zum Thema: Gabriele Schulz, Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrats, sprach am Equal Pay Day bei WDR 3 Kultur am Mittag über den Gender-Pay-Gap, seine Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten.

 

Der Beitrag kann hier in der Audiothek des WDR nachgehört werden.

 


 

5. Text der Woche: Antidiskriminierungsklausel als Entschuldigungsklausel: Über ungelöste abgelöste Probleme von Johann Hinrich Claussen

 

Eine alte Lebensweisheit besagt: Probleme werden nicht gelöst, sondern durch Sandere Probleme abgelöst. Deshalb lohnt es sich, ungelöst-abgelöste Probleme nachträglich zu bedenken, weil sie bestimmt irgendwann in anderer Gestalt wiederkehren. In diesem Sinne möchte ich – auch wenn es niemand mehr hören kann – noch einmal über die zurückgezogene Anti-Antisemitismuserklärung der Berliner Kulturverwaltung nachdenken. Denn ein entscheidender Aspekt ist in der aufgeregten und jetzt abgestellten Diskussion zu kurz gekommen. Dabei könnte er dafür sorgen, dass uns bald eine kulturpolitische Folgedebatte beschert wird.

 

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.

 

 

 

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