Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit sind auf das Engste miteinander verwoben. Wirklich nachhaltig sind Strukturen erst dann, wenn sie auch auf Krisen und Notfälle eingestellt sind und diesen möglichst effektiv begegnen. Der nachhaltige Einsatz von Ressourcen für den Unterhalt bzw. die Schaffung von Strukturen setzt also notwendig das Mitdenken der Krise voraus. Dies gilt selbstredend auch für unser gemeinsames kulturelles Erbe, für die Kultureinrichtungen in Deutschland und nicht zuletzt für die Kulturförderung, wo im Sinne einer nachhaltigen Kulturpolitik das Risiko- und Krisenmanagement in Zukunft eine sehr viel gewichtigere Rolle spielen muss als bisher.
Gewiss, Risikoanalysen und Notfallplanungen sind keine beliebten und leicht zu vermittelnden Themen. Wer denkt schon gerne über das Schlimmste nach und wendet Ressourcen für seine mögliche Abwehr auf? Dies fällt umso schwerer, wenn Jahrzehnte anhaltenden Friedens und Wohlstands unsere Wahrnehmung von bestehenden Vulnerabilitäten und Gefahren getrübt und unsere Bewertung des tatsächlichen Krisen- und Katastrophenrisikos beeinträchtigt haben. Dass es auf Bundesebene zwischen 1995 und 2016 keine ressortübergreifende Neukonzeption der Zivilen Verteidigung – auch der Schutz von Kulturgut im Katastrophenfall zählt zum Zivilschutz – gegeben hat und die „Konzeption Zivile Verteidigung“ des Bundesministeriums des Innern erst kürzlich diese strategische Lücke geschlossen hat, zeigt deutlich, wie wenig präsent das Thema Krisenresilienz in den verschiedenen Politikfeldern einschließlich der Kulturpolitik über lange Zeit hinweg gewesen ist.
Unlängst ist jedoch ein politischer Bewusstseinswandel eingetreten. Ablesbar ist dies unter anderem an der derzeit stattfindenden, ressortübergreifenden Erarbeitung einer Nationalen Resilienzstrategie unter Federführung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe im Rahmen der Umsetzung des „Sendai Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge (2015-2030)“ der Vereinten Nationen in Deutschland. Gerade auch für die Kultur hat dieser Sinneswandel enorme Bedeutung, schafft er doch günstige politische Rahmenbedingungen für die dringend erforderliche Stärkung des Risiko- und Krisenmanagements als Aufgabe sowohl der Kulturpolitik als auch der Kultureinrichtungen.
Alte Gefahren mit neuer Dimension
Dabei ergibt sich die Dringlichkeit einer konzeptionell und infrastrukturell verbesserten Notfallvorsorge in der Kultur ganz unmittelbar aus einer zunehmend riskanten Gefahrenlage bei gleichbleibenden Vulnerabilitäten. Zunächst gilt, dass das bewegliche und unbewegliche Kulturgut einer Gesellschaft grundsätzlich denselben Gefahren ausgesetzt ist, die auch die anderen gesellschaftlichen Bereiche existenziell bedrohen. Die Hochwasserkatastrophen in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Juli 2021 haben – wie schon frühere Hochwasser unter anderem an Oder, Elbe und Donau – diesen grundlegenden Sachverhalt einmal mehr auf erschreckende und leidvolle Weise verdeutlicht. Gleichzeitig müssen die Maßnahmen, die im Bereich Kultur dem Risiko- und Krisenmanagement dienen, den besonderen Anforderungen Rechnung tragen, die durch die materiellen Eigenschaften, die konservatorischen Erfordernisse sowie den hohen gesellschaftlichen Stellenwert von Kulturgut vorgegeben sind.
Zu den folgenschwersten natürlichen Gefahren für materielles Kulturgut gehören Erdbeben, Hochwasserkatastrophen und Starkwindereignisse. In Deutschland sind insbesondere die Gefahren für Kulturgut, die von Hochwasserereignissen ausgehen, erheblich. Dies hängt auch damit zusammen, dass Flüsse wie Elbe, Oder, Mosel und Rhein seit Jahrtausenden als Handels- und Reisewege genutzt werden und sich daher an ihren Ufern historische Kulturlandschaften herausgebildet haben, deren Charakter nicht zuletzt durch das gebaute Kulturerbe geprägt ist.
Es ist davon auszugehen, dass die Folgen des Klimawandels das Auftreten bereits bekannter natürlicher Schadensereignisse an unbeweglichem und beweglichem Kulturerbe maßgeblich verstärken und beschleunigen werden. Neben der Häufung von Extremwetterereignissen führen der Anstieg der Durchschnittstemperaturen sowie anhaltende Trockenheit beispielsweise zu einer Erhöhung der Brandgefahr sowie vielfach zu einer Absenkung des Grundwasserspiegels. Davon sind nicht nur historische Garten- und Parkanlagen betroffen, sondern auch historische Gebäude, deren Fundamente durch die Austrocknung des Bodens an Stabilität einbüßen und dadurch von Einsturz bedroht sein können.
Jenseits der natürlichen Gefahren sind es seit jeher vom Menschen verursachte Ereignisse und Situationen, die das kulturelle Erbe bedrohen. Bewaffnete Konflikte galten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Europa als unwahrscheinlich. Angesichts global zunehmender geopolitischer und geoökonomischer Rivalitäten können sie jedoch für die Zukunft nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden und sind daher als Notfallszenario auch im Risikomanagement von Kultureinrichtungen und kulturell bedeutsamen Stätten wieder stärker zu berücksichtigen.
Daneben werden auch zukünftig Unfälle, Betriebsstörungen und menschliches Versagen katastrophale Auswirkungen aus unbewegliches und bewegliches Kulturgut haben. Zu den rezenten Beispielen für entsprechende Notfälle gehören der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar im Jahr 2004, der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im Jahr 2009 sowie die Brandkatastrophen im Nationalmuseum der Bundesuniversität von Rio de Janeiro im Jahr 2018 und in der Kathedrale Notre-Dame de Paris im Jahr 2019. Mit dem stetig anwachsenden Sanierungsstau in historischen Baudenkmälern und kulturgutbewahrenden Einrichtungen in Deutschland erhöht sich zwangsläufig auch das Risiko, dass dort in Zukunft entsprechende Katastrophen mit gleichermaßen verheerenden Folgen auftreten werden.
Religiöser und politischer Fundamentalismus, gesellschaftliche Polarisierung, politische Instabilität sowie soziale Ungleichheit erhöhen schließlich ebenfalls das Notfallrisiko für Kulturgut erheblich. Dies gilt insbesondere dann, wenn gesellschaftliche Konflikte durch gewaltsame Demonstrationen und Proteste ausgetragen werden. Prominente Beispiele für entsprechende Notfälle sind etwa die teilweise Zerstörung und Plünderung des Ägyptischen Museums in Kairo am Rande der Proteste auf dem Tahrir-Platz im Januar 2011, Zerstörungen im Arc de Triomphe-Museum in Paris im Dezember 2018 durch Mitglieder der sogenannten „Gelbwesten-Bewegung“ sowie der sogenannte „Sturm“ auf das Kapitol in Washington D.C. durch Anhänger des bereits abgewählten US-amerikanischen Präsidenten Donald J. Trump im Januar 2021. Schon heute dürfte man gut beraten sein, entsprechende Szenarien auch für das Risikomanagement deutscher Städte, insbesondere solcher Städte mit hohem Protestaufkommen und einer ausgeprägten kulturellen Infrastruktur, zugrunde zu legen.