Kultur als Daseinsvorsorge!

Berlin, den 29.09.2004. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, fordert den Bund, die Länder und die Gemeinden auf, die kulturelle Daseinsvorsorge zu gewährleisten.

 

Präambel

Gesellschaftliche Veränderungen wie die Globalisierung, der demographische Wandel, die interkulturelle Gesellschaft, die ökonomische Krise sowie die Ausbreitung der elektronischen Medien stellen den Kulturbereich vor neue Herausforderungen.

 

Neben diesen Prozessen des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels ist festzustellen, dass Kunst und Kultur vermehrte Aufmerksamkeit im Kontext internationaler Handelsverträge auf sich ziehen. Denn die Globalisierung betrifft nicht allein den weltweiten Handel mit Waren und Dienstleistungen, der in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung zugenommen hat. Globalisierung bedeutet auch, dass Kunst und Kultur weltweit ausgetauscht werden und in einigen Bereichen der Warencharakter von Kunst und Kultur zunimmt. Ein Symbol für den zunehmenden Handel mit Dienstleistungen sind die GATS-Verhandlungen (Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen), die darauf abzielen, den weltweiten Dienstleistungsverkehr zu liberalisieren.

 

Es gibt allerdings einige Strategien, um die Ökonomisierung von Kunst und Kultur aufzuhalten. So geht man im Rahmen der Diskussion um eine UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt davon aus, dass man es bei „kulturellen Gütern und Dienstleistungen“ mit einem Doppelcharakter zu tun hat. Zum einen werden sie als Waren gehandelt, andererseits sind sie Träger von Bedeutung, von Identität und als Ergebnis kreativen Schaffens ein kultureller Ausdruck von Menschen und Gruppen.

 

Ein anderer Versuch, die Marktgesetze zu begrenzen, ist die Einbeziehung von Kunst und Kultur unter Kategorien wie „Daseinsvorsorge“, in „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ oder „Grundversorgung“. Es handelt sich hierbei zwar nicht um genuin kulturelle Begrifflichkeit. Bezieht man jedoch kulturelle Leistungen und gegebenenfalls auch künstlerische Leistungen in den Begriff der kulturellen Daseinsvorsorge ein, dann meint Daseinsvorsorge ein flächendeckendes Kulturangebot in den verschiedenen künstlerischen Sparten, das zu erschwinglichen Preisen, mit niedrigen Zugangsschwellen breiten Teilen der Bevölkerung kontinuierlich und verlässlich zur Verfügung steht.

 

Der Kulturbereich wird sich zunehmend mit den veränderten Rahmenbedingungen in einer globalisierten Welt auseinander zu setzen haben. Denn die Zukunft der Kultureinrichtungen wird nicht allein von nationalen Entscheidungen abhängen.

 

Der demographische Wandel und die Abwanderung junger Menschen in einigen Regionen führen zu einer Veränderung in der Zusammensetzung des Publikums und zu einem veränderten Nutzungsverhalten von Kultureinrichtungen.

 

Die Bundesrepublik Deutschland ist zudem eine interkulturelle Gesellschaft. In den urbanen Zentren gibt es Stadtteile mit einer vorwiegend nicht deutschstämmigen Bevölkerung, die eine eigene Kultur mitgebracht und hier in Deutschland weiterentwickelt hat. Die Kultureinrichtungen werden sich also noch mehr als bisher damit zu befassen haben.

 

Die Finanznot der öffentlichen Haushalte sowie steigende Sozialausgaben führen dazu, dass gerade Kulturausgaben unter Druck geraten und z.T. erheblich gekürzt werden. Der Zugang zu Kultur darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Soziale Verantwortung des Staates zeigt sich auch darin, Chancen zur Teilhabe an Kunst und Kultur für alle Menschen offen zu halten. Dies muss durch eine ausreichende öffentliche Finanzierung sicher gestellt werden.

 

Die Durchdringung der Gesellschaft durch die Medien hat tiefgreifende Spuren hinterlassen. Die Wahrnehmung und die Produktion von Kunst und Kultur hat sich durch die Medien deutlich verändert. Auch das wird Einfluss auf das Rezeptionsverhalten der Menschen haben.

 

Sowohl der Kulturbereich selbst als auch die Kulturpolitikerinnen und -politiker in den Parlamenten, in der Verwaltung und in den Verbänden müssen sich diesen Veränderungen stellen. Es ist ein solches Angebot an kulturellen Leistungen und kultureller Bildung sicherzustellen, das sowohl kulturellen Qualitätsansprüchen genügt als auch eine breite Teilhabe ermöglicht. Damit kulturelle Leistungen auch morgen noch in Anspruch genommen werden können und damit die Gesellschaft sich ihrer Herkunft und ihres kulturellen Erbes versichern kann, sind Investitionen in die kulturelle Bildung unerlässlich.

 

Basis des kulturellen Lebens in Deutschland

Das kulturelle Leben in Deutschland basiert auf einem dichten Netz an Kultureinrichtungen, -vereinen und -stiftungen der verschiedenen künstlerischen Sparten. Diesem Angebot entspricht eine hohe Nachfrage durch die interessierte Bevölkerung. Beide haben sich in Jahrhunderten entwickelt – sie sind Teil unseres Erbes und Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft. Kultureinrichtungen, -vereine und -stiftungen bewahren Kunstwerke, Literatur und Denkmale, stellen sie der breiten Öffentlichkeit sowie der Fachwelt bereit bzw. vor, sie führen Musik-, Tanz- oder Theaterstücke auf, sie fördern Künstlerinnen und Künstler bzw. künstlerische Projekte. Sie liefern vielfältige Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe der Menschen in Deutschland.

 

Ein lebendiges kulturelles Leben braucht Künstlerinnen und Künstler, erst ihr kreatives Schaffen legt den Grundstein für die weitere Beschäftigung mit und für die Aufführung und Bewahrung von Kunst und Kultur. Neben dem Erhalt bzw. dem Ausbau einer kulturellen Infrastruktur ist die Sicherung der Arbeits- und Verwertungsmöglichkeiten für Künstlerinnen und Künstler notwendig.

 

Kulturelle Bildung ist unverzichtbar für die Beschäftigung mit Kunst und Kultur. Bereits bei kleinen Kindern und Jugendlichen kann und muss die Begeisterung für Kunst und Kultur geweckt werden. Kulturelle Bildung ist die Voraussetzung für Teilhabe am kulturellen Leben. In den künstlerischen Fächern in der allgemeinbildenden Schule kommen alle Kinder mit Literatur, Bildender Kunst, Musik und z.T. mit Darstellendem Spiel in Berührung. In Jugendkunstschulen, in Musikschulen sowie in den verschiedenen Vereinen werden künstlerische Begabungen entdeckt und gefördert. Museums-, theater-, musik-, medienpädagogische oder baukulturelle Angebote wecken Interesse an Bildender Kunst, Musik, Medien, Literatur, den Zeugnissen früherer Kulturen, Theater oder der gebauten Umwelt und ermöglichen eine vertiefende Auseinandersetzung. In der allgemeinen Weiterbildung werden künstlerische und kulturelle Qualifikationen vermittelt.

 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist Bestandteil des kulturellen Lebens. In der Erfüllung seines Informations-, Unterhaltungs- und Bildungsauftrag nimmt er einen unverzichtbaren Kulturauftrag wahr. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist für die Aufrechterhaltung und Vielfalt des Kulturbetriebs wichtig. Dies gilt auch für seinen Stellenwert im Filmbereich. Die Filmförderungen auf nationaler und regionaler Ebene tragen entscheidend zur Vielfalt des Filmschaffens in Deutschland bei. Nur so können unabhängige und innovative Projekte entstehen.

 

Ein wichtiger Teil des kulturellen Lebens beruht auf Bürgerschaftlichem Engagement. Eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern engagieren sich in kulturellen Vereinen. Neben der eigenen kreativen Tätigkeit z.B. im Amateurtheater, in Chören oder in Laienorchestern stellen sie auch ein kulturelles Angebot für andere zur Verfügung. Gerade im ländlichen Raum wäre manches Kulturangebot ohne bürgerschaftliches Engagement nicht realisierbar. Darüber hinaus engagieren sich Bürgerinnen und Bürger mit Zeit und mit Geld in Fördervereinen sowie in Stiftungen.

 

Die Kulturwirtschaft ist in vielfältiger Weise mit den bereits aufgeführten Teilbereichen des kulturellen Lebens verbunden. Sie macht aus Kunstwerken Kulturprodukte, die vom Endverbraucher gekauft werden. Ohne einen Verlag findet das Manuskript des Romans, des Kinderbuches oder des Lyrikbandes nicht zu den Leserinnen und Leser. Ohne Galerien würden bildende Künstlerinnen und Künstler kaum Käufer ihrer Arbeiten finden. Ohne Filmproduzenten, Verleiher und Kinobetreiber bliebe es lediglich bei der Idee eines Filmes.

 

Das kulturelle Leben in Deutschland ruht auf den Säulen: Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen, -vereine, -stiftungen, kulturelle Bildung, bürgerschaftliches Engagement, öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Kulturwirtschaft. Sie alle stehen in enger Wechselwirkung und bilden gemeinsam das kulturelle Leben aus.

 

Rechtliche Grundlagen der Kulturpolitik und Kulturförderung

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Pakt zu den ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechten sowie der Kinderrechtskonvention wird jeweils das Recht auf Kunst und Kultur garantiert. Die Bundesrepublik Deutschland hat diese internationalen Vereinbarungen ratifiziert und ist damit eine Verpflichtung zur Sicherung des kulturellen Lebens eingegangen.

 

Darüber hinaus wird der Kunstfreiheitsartikel des Grundgesetzes (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) laut Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ausschließlich als passives Abwehrrecht gegen unzulässige Einmischungen des Staates in die Kunstfreiheit angesehen, sondern auch als aktive Gestaltungsaufgabe des Staates interpretiert. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist eine das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Sie gewährt zugleich ein individuelles Freiheitsrecht. Die Wirkungsdimension der Kunst steht im Zentrum der Kunstfreiheit. Wegen der wirkenden Dimension der Kunst gehören zu ihren Strukturmerkmalen nicht nur die Herstellung (der Werkbereich), sondern auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks (der Wirkbereich). Für beide Bereiche garantiert daher dieses Grundrecht ihre Freiheit. Da es vor allem im Wirkbereich zu Kollisionen mit anderen öffentlichen Interessen kommen kann, ist sein Schutz das vorrangige Ziel der Kunstfreiheit.

 

In ihren Verfassungen bekennen sich die Länder zu ihrer Verantwortung in der Pflege und Förderung von Kunst und Kultur.

 

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII) anerkennt die kulturelle Bildung und ordnet sie in den Bildungsauftrag des Staates für Kinder und Jugendliche ein.

 

In den Rundfunkstaatsverträgen ist die Grundversorgung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als unerlässliche Aufgabe definiert. Nach der einschlägigen Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es seine Aufgabe, die gesamte Bevölkerung mit einem inhaltlich umfassenden Programmangebot von Information, Bildung und Unterhaltung aus allen Kulturbereichen zu versorgen.

 

Auf der europäischen Ebene bekennen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Präambel der künftigen EU-Verfassung zur kulturellen Vielfalt. Die Ausgestaltung der Kulturpolitik wird gemäß dem Subsidiaritätsprinzip den Mitgliedstaaten zugewiesen. Bereits im Vertrag von Maastricht und später im Vertrag von Amsterdam hat die Europäische Union mit der Kulturverträglichkeitsprüfung ein Instrument geschaffen, mit dem die Gemeinschaftspolitiken dahingehend geprüft werden sollen, ob die Kultur unter Umständen Schaden nehmen könnte. Gerade mit Blick auf die GATS-Verhandlungen, bei denen das Verhandlungsmandat der Europäischen Union obliegt, ist die Kulturverträglichkeitsprüfung ein wichtiges Instrument, um im Vorfeld zu überprüfen, inwiefern die Kultur durch die Liberalisierung von Dienstleistungen Schaden nehmen könnte. Die Europäische Union hat von den Mitgliedsstaaten kein Mandat, Kultur in die Liberalisierungsverhandlungen im Rahmen des GATS einzubringen. Bedenklich stimmt in diesem Zusammenhang der Vorstoß der Generaldirektion Wettbewerb eine Richtlinie zu Dienstleistungen im Binnenmarkt vorzuschlagen, die gegenwärtig keine Ausnahmeregelungen für den Kultur- oder Medienbereich vorsieht.

 

Definition von „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“

Der nationale Gesetzgeber wird vom Europäischen Parlament aufgefordert, eine Unterscheidung zwischen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu treffen. Zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zählen laut Europäischem Parlament die Grundbildung, die soziale Sicherheit sowie Dienstleistungen, die die Informationsvielfalt und die kulturelle Vielfalt betreffen.

 

Kultur und Bildung werden also vom Europäischen Parlament eindeutig zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse gezählt. Sie gehören nach dieser Auffassung zur Daseinsvorsorge. Das bedeutet einen Schutz vor dem Wettbewerbsrecht.

 

Das Europäische Parlament betont, dass die Bürger die freie Wahl in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinen Interesse haben und hochwertige Dienstleistungen zu wettbewerbsfähige Preisen zur Verfügung gestellt werden müssen. Daraus folgt eine Verpflichtung für den Staat, ein hochwertiges kulturelles Angebot zu gewährleisten, welches durch die öffentliche Hand selbst oder durch private Träger und Anbieter erbracht werden kann.

 

Wie dieses Angebot konkret aussieht, muss – von der europäischen Ebene aus gesehen – nach dem Subsidiaritätsprinzip in den Mitgliedsstaaten nach den geltenden Zuständigkeitsregeln selbst entschieden werden.

 

„Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ und „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“

Beginnend mit den achtziger Jahren wurden in verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Sektoren, die zunächst dem öffentlichen Bereich zugeordnet waren, wie die Bahn, die Post, die Wasserversorgung oder auch die Telekommunikation privatisiert. Man spricht inzwischen bei diesen Sektoren von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Das Europäische Parlament hat in seiner jüngsten Stellungnahme zum „Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ deutlich gemacht, dass es die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse unter Wettbewerbsgesichtspunkten betrachtet, die eingetretene Liberalisierung begrüßt und besonders die Telekommunikationsdienstleistungen als Wachstumsmarkt ansieht.

 

Davon werden von Seiten des Europäischen Parlaments Dienstleistungen von allgemeinem Interesse abgegrenzt. Diese Dienstleistungen sind laut Europäischem Parlament komplexer Natur. Die Organisation dieser Dienstleistungen ist in den verschiedenen Mitgliedstaaten auf Grund der verschiedenen kulturellen Traditionen voneinander differierend geregelt. Das Europäische Parlament hat in seiner Stellungnahme zum „Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ bekräftigt, dass die Bürger „hochwertige Leistungen der Daseinsvorsorge flächendeckend und zu erschwinglichen Preisen oder, wenn es die soziale Situation erforderlich macht, kostenlos erhalten sollen“ (Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments zu dem Grünbuch der Kommission zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (KOM(2003)270 – 2003/2152(INI)) (EuB-EP 1066)). Vom Europäischen Parlament wird mit Blick auf die GATS-Verhandlungen darauf verwiesen, dass das GATS keine Privatisierung oder Deregulierung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vorschreibt.

 

Dienstleistungen von allgemeinem Interesse können die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durch Gebühren oder öffentliche Mittel finanzieren.

 

Die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse leisten also die Daseinsvorsorge mit öffentlichen Gütern. Sie sind jener Bereich, der nicht dem Markt zugeordnet werden soll. Es wird also zu Recht davon ausgegangen, dass Marktprinzipien wie die Gewinnerzielungsabsicht zu keiner Verbesserung der Dienstleistung führen.

 

Konkretisierung der kulturellen Daseinsvorsorge

Daseinsvorsorge im Bereich der Kultur meint ein flächendeckendes Kulturangebot in den verschiedenen künstlerischen Sparten, das zu erschwinglichen Preisen, mit niedrigen Zugangsschwellen breiten Teilen der Bevölkerung kontinuierlich und verlässlich zur Verfügung steht. Neben der quantitativen Sicherung von kulturellen Angeboten ist deren Qualität ein wesentliches Charakteristikum. Daraus folgt, dass öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen nicht nur den Mainstream bedienen dürfen, sondern ihnen auf Grund ihres Status die Aufgabe zukommt, auch die nicht eingängigen Kunstformen zu präsentieren. Dazu gehören ganz besonders innovative, noch nicht etablierte künstlerische Ausdrucksformen. Diese Verpflichtung schließt den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit ein, der auf Grund seiner Finanzierung durch Gebühren neben den Kriterien der Reichweite und allgemeiner Zugänglichkeit auch dem Qualitätskriterium genügen muss.

 

Die Bundesrepublik Deutschland hat ihr kulturelles Leben in den nahezu sechs Jahrzehnten ihres Bestehens insbesondere sichergestellt durch das Bereithalten von öffentlichen Kultureinrichtungen, wie Museen, Stadt-, Staats- oder Landestheatern sowie Bibliotheken. Hinzu kam aber immer die eine große kulturelle Vielfalt sichernde Förderung von privaten Kultureinrichtungen unterschiedlichster Art. Will die Bundesrepublik Deutschland den an sie gestellten Anforderungen auch in Zukunft gerecht werden, ist an dieser Art der Sicherstellung der kulturellen Daseinsvorsorge festzuhalten. Dies gilt für die Neuen Länder auch angesichts einer diesbezüglichen eindeutigen Formulierung in Artikel 35 des Einigungsvertrags.

 

Kulturelle Daseinsvorsorge darf sich daher nicht darin erschöpfen, ein Angebot bloß bereitzuhalten. Es kommt auch darauf an, die Bevölkerung mit diesem Angebot zu erreichen. Nur so lässt sich die Definition als Daseinsvorsorge und die weitgehende Finanzierung durch die Allgemeinheit begründen. Die Politik ist gefordert, unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen über den Umfang des kulturellen Angebotes zu treffen und nach diesen Entscheidungen für eine adäquate Mittelausstattung Sorge zu tragen.

 

Zur Daseinsvorsorge im Kulturbereich gehört die kulturelle Bildung als wichtige Voraussetzung für eine breite Beteiligung aller Menschen am kulturellen Leben. Kulturelle Bildung darf sich daher nicht ausschließlich auf Kinder und Jugendliche konzentrieren, sondern muss auch Erwachsene einbeziehen.

 

Darüber hinaus dürfen sich Kulturangebote in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht auf die späten Nachtstunden oder Spartensender konzentrieren. Der Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten impliziert, dass zu den Hauptsendezeiten sowohl im Hörfunk als auch Fernsehen die kulturelle Vielfalt gewährleistet wird. D.h. konkret, dass auch weniger eingängige Programmformate zu den Hauptsendezeiten im Vollprogramm gesendet werden.

 

Die kulturelle Daseinsvorsorge geht über den Erhalt des bestehenden Kulturangebotes hinaus. Neben der Pflege des Kulturerbes muss die Kulturpolitik auch der Innovation verpflichtet sein. Eine Gesellschaft ohne Geschichtsbewusstsein verleugnet ihre Wurzeln, eine Gesellschaft ohne Innovationen ist rückwärtsgewandt. Gerade der Kulturbereich ist gefordert, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Tradition und Innovation herzustellen.

 

Der Gedanke der kulturellen Vielfalt ist Grundlage der kulturellen Daseinsvorsorge. Es ist daher erforderlich, dass alle künstlerischen Sparten berücksichtigt werden müssen.

 

Kulturelle Daseinsvorsorge darf sich nicht allein auf Kultureinrichtungen beziehen, sie muss die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern ebenso in den Blick nehmen. Sowohl die individuelle Künstlerförderung als auch die Förderung von künstlerischen Projekten gehören zur kulturellen Daseinsvorsorge. Dazu zählt auch die kostengünstige Bereitstellung von Arbeitsräumen wie z.B. Ateliers oder Proberäumen.

 

Forderungen des Deutschen Kulturrates

Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, fordert die Entscheidungsträger in den Verwaltungen und den Parlamenten aller politischen Ebenen Europa, Bund, Länder und Gemeinden auf, sich für die Verwirklichung der kulturellen Daseinsvorsorge einzusetzen. Aus den genannten internationalen Übereinkommen, die von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurden, dem Grundgesetz sowie den Landesverfassungen lässt sich eine Verpflichtung zur Kulturförderung ableiten bzw. wird sogar direkt formuliert. Die jüngsten Diskussionen zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse bekräftigen, dass Kultur zu angebotenen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse gehören und auch zu sozialverträglichen Preisen und für jedermann erreichbar angeboten werden müssen. Hier ist noch einmal auf den Zusammenhang zwischen sozialverträglichen Preisen und öffentlicher Finanzierung hinzuweisen; je höher die öffentliche Finanzierung ist, desto größer sind die Zugangsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zu den Kultureinrichtungen.

 

Der Deutsche Kulturrat fordert die Aufnahme des Staatsziels Kultur in das Grundgesetz. Die Staatszielbestimmung Kultur im Grundgesetz würde über das Bekenntnis zur Kunstfreiheit hinaus die Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat definieren. Nach Auffassung des Deutschen Kulturrates sollte in einem neuen Artikel 20 b des Grundgesetzes formuliert werden, dass der Staat die Kultur schützt und fördert.

 

Ebenso fordert der Deutsche Kulturrat die Aufnahme des Staatsziels Kultur in alle Landesverfassungen. Die Länder nehmen für sich die Kulturhoheit in Anspruch. Die Staatszielbestimmung Kultur in den Landesverfassungen bekräftigt diesen eigenen Anspruch. Der Deutsche Kulturrat fordert eine kontinuierliche Evaluierung, wie diese Verantwortlichkeit eingelöst wird.

 

Die Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur wie sie in den Steuergesetzen, dem Urheberrechtsgesetz oder auch dem Arbeits- und Sozialrecht gestaltet werden, müssen kulturfreundlich sein. Die auf der europäischer Ebene vertraglich zugesicherte Kulturverträglichkeitsprüfung muss bei allen Gemeinschaftspolitiken der Europäischen Union konsequent angewandt werden. Auf der Bundesebene gilt es die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kulturverträglichkeitsprüfung über die Ressortabstimmung hinaus zu einem wirksamen Instrument weiter zu entwickeln.

 

Kultur in Deutschland ist im Wesentlichen kommunale Kultur. Die kommunalen Kultureinrichtungen sowie die durch die Kommune geförderten Institutionen bieten den Menschen ein breites kulturelles Angebot, das die Pflege des kulturellen Erbes ebenso umfasst wie die Innovation. Kommunale Kulturpolitik darf sich nicht auf eine Verwaltung des finanziellen Mangels beschränken. Sie muss Visionen entwickeln für die Zukunft der Stadt und ihre kulturellen Institutionen. Nicht zuletzt die schwierige Lage der kommunalen Finanzen führt jedoch dazu, dass die kommunale Kulturförderung neue Projekt kaum mehr fördern kann, da viele Gemeinden der Haushaltssicherung unterstehen und ausschließlich ihre Pflichtaufgaben erfüllen dürfen. Der Deutsche Kulturrat fordert die Länder auf, den Kulturbereich ebenfalls den pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben der Kommunen zu zuordnen, um so die kommunale Kulturfinanzierung haushaltsrechtlich sicherzustellen.

 

Die kulturelle Kinder- und Jugendbildung ist teilweise als gesetzliche Förderungsaufgabe im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB XIII) verankert. Zur Stärkung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung fordert der Deutsche Kulturrat auf der Ebene der Länder, die verpflichtende Förderung in Ausführungsgesetzen umzusetzen. Die bestehenden Musikschulgesetze in einigen Ländern können so sinnvoll ergänzt werden. Sie müssen auf andere künstlerische Sparten übertragen werden, um auch hier die Vielfalt kultureller Bildungsmöglichkeiten langfristig zu sichern.

 

Der ästhetischen Frühbildung und kulturellen Bildung in Kinderkrippen und Kindergärten muss stärkere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese Einrichtungen sind in einer sehr frühen prägenden Phase der kleinen Kinder Orte des kulturellen und interkulturellen Lernens. Der Deutsche Kulturrat fordert, dass Kunst und Kultur in der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher einen größeren Stellenwert erhält, um möglichst allen Kindern den Zugang zu Kultur zu ermöglichen.

 

Die allgemeinbildende Schule erreicht alle Kinder und Jugendlichen. Der Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen in den Schulen muss im Kunst- und Kulturbereich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Ganztagsschule bietet die Möglichkeit, zu Chancengleichheit und Teilhabe einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Qualifizierte Angebote in Kunst und Kultur sind daher für eine qualitätsvolle Ganztagsschule unverzichtbar. Neben ergänzenden Angeboten außerschulischer Anbieter kultureller Bildung im Rahmen der Ganztagsbetreuung gehören die künstlerischen Schulfächer zum unverzichtbaren Kanon der allgemeinbildenden Schule.

 

Die Weiterbildung gewinnt sowohl in den fachwissenschaftlichen und politischen Diskussionen an Bedeutung. Die Weiterbildungsgesetze beschreiben den Stellenwert der unterschiedlichen Weiterbildungsfelder und bilden die Grundlage für förderpolitische Entscheidungen. Der Deutsche Kulturrat fordert, dass die kulturelle Bildung in den Weiterbildungsgesetzen der Länder flächendeckend verankert wird und daraus abgeleitet, Angebote kultureller Weiterbildung entsprechend gefördert werden.

 

Die Grundlage für Kulturpolitik ist eine abgestimmte Kulturstatistik. Der Deutsche Kulturrat begrüßt, dass sich die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Kultur in Deutschland“ besonders der Frage nach einer zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgestimmten Kulturstatistik angenommen hat. Eine valide Kulturstatistik ist eine Grundlage für eine fundierte Kulturpolitik. Der Deutsche Kulturrat fordert die Forcierung der Arbeit an einer von Bund und Ländern erarbeiteten gemeinsamen Kulturstatistik.

 

Die Mehrzahl der größeren Kommunen übernehmen faktisch die kulturelle Daseinsvorsorge der umliegenden Gemeinden. Der Deutsche Kulturrat fordert, die interkommunale Zusammenarbeit und vor allem die interkommunale Kulturfinanzierung zu verstärken. Nur so wird es gelingen, eine kulturelle Daseinsvorsorge in der Fläche zu gewährleisten, da die Oberzentren und die Metropolen mit der alleinigen Finanzierung eines kulturellen Angebotes überfordert wären.

 

Im Rahmen seiner Programmautonomie ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk gefordert, die Wahrnehmung seines Kultur- und Bildungsauftrags zu verstärken. In den letzten Jahren haben ARD und ZDF neue Foren für Kultur in ihren Programmangeboten geschaffen. Dies sind wichtige Zukunftsinvestitionen in die Weiterentwicklung des Rundfunks und der durch ihn vermittelten kulturellen Vielfalt. Der Deutsche Kulturrat fordert die Politik – insbesondere die Länderparlamente und -regierungen – auf, dafür Sorge zu tragen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk diesen Auftrag auch in Zukunft wirksam und in seiner ganzen Breite erfüllen kann. Die Länderparlamente sind gefordert, ausreichend Mittel für die Filmförderinstitutionen bereit zu stellen, um die Realisierung von unabhängigen Filmproduktionen und innovativen Projekten sicherzustellen. Diese Filmprojekte können nur mit Hilfe von Fördermitteln entstehen und sie garantieren Innovationen in der Filmindustrie.

 

Das Bürgerschaftliche Engagement bildet ein wichtiges Rückgrat für das kulturelle Leben. Der Deutsche Kulturrat fordert durch konsequente Entbürokratisierung die Rahmenbedingungen für das Bürgerschaftliche Engagement zu verbessern und mehr Bürgerinnen und Bürger Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dies darf jedoch nicht eingehen mit einer Entprofessionalisierung von Kunst und Kultur.

 

Schlussbemerkung

Die Bundesrepublik Deutschland ist einer der größten europäischen Kulturstaaten. Die öffentliche Förderung von Kunst und Kultur hat uns einen kulturellen Reichtum beschert, der dieses Land auszeichnet. Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, das künstlerische, musikalische und literarische Schaffen aus allen Ländern der Welt in den Kultureinrichtungen kennen zu lernen und sich mit diesem Schaffen auseinander zu setzen. Dieses Angebot gilt es in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten.

 

Der Deutsche Kulturrat sieht den Kulturbereich selbst in der Pflicht, seinen Beitrag zur Sicherung der Daseinsvorsorge zu leisten. Das bedeutet etwa, sich für ein regional und lokal ausgewogenes Kulturangebot einzusetzen. Kunst und Kultur, insbesondere avantgardistische, ist teilweise nicht leicht zugänglich. Gerade deshalb ist der Kulturbereich ganz besonders aufgefordert, die kulturelle Bildung als integralen Bestandteil der Arbeit zu begreifen und so Teilhabe zu ermöglichen.

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