Kulturelle Infrastruktur im Zeichen von Corona

Zur Stillstellung der Kultur bei forciertem Betrieb

 

Unsere Werte – Recht auf Freiheit! – Recht auf Risiko?

 

Angesichts dieses Textes frage ich nach den Werten, die das menschliche Zusammenleben prägen: Müssen wir nicht zu einer neuen Abwägung kommen zwischen der Freiheit von Kulturinstitutionen, Angebote zu machen, sowie der Freiheit des Einzelnen, diese wahrzunehmen, auf der einen Seite gegenüber der Sicherheit von Individuen und Gemeinschaften, die durch Regeln und systemische Eingriffe garantiert werden sollen, auf der anderen Seite. Alle Appelle der Politik zielen auf diesen einen Punkt: Es kommt auf die Haltung jedes Einzelnen an. Und uns ist bewusst: Ein Verhalten zu entwickeln und zu praktizieren, das auf einer klugen Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit basiert, ist nicht nur das Gebot der Stunde, sondern eine kontinuierliche Herausforderung. Doch gerade in und durch Kultur lernen wir, uns „regelrecht“ zu verhalten. Etwas banaler ausgedrückt: Wo sonst, wenn nicht in der Gemeinschaft können wir unser Verhalten einüben? Erst gemeinsam mit anderen lernen wir die „Begegnung auf Abstand“ und mit den gesundheitlichen Risiken richtig umzugehen.

 

Wenn wir also in und durch Kultur erkennen, wie wir die Rechte auf freiheitliche Entfaltung, das Recht auf Risiko und das Recht auf Sicherheit sowie Schutz vor gesundheitlichen Schäden in Einklang bringen können, dann bedarf es zwingend dieser öffentlichen Orte der Begegnung, der Reflexion und des Austausches, in denen erkannt, erörtert und erlebt werden kann, wie wir die Spannung zwischen individueller Freiheit und Beschränkung künftig gestalten wollen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Pandemie, sondern langfristig auch um letztlich ebenso bedrohliche globale Problematiken wie die des Klimawandels, zu deren Bewältigung es ebenfalls auf individuelles Verhalten in der Gemeinschaft ankommt.

 

Entscheidungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ethik

 

Die „Systemimmanenz“ von Kultur als Lebenselement erkennend, stellt sich daher die Grundsatzfrage: Ist es nicht gerade jetzt Aufgabe des Staates, den Kulturinstitutionen, den Kulturschaffenden und den Kulturbürgern die Freiheit und die Ermächtigung zu geben, je individuell die Abwägung zwischen Freiheit, Risiko und Sicherheitsgarantien eigenverantwortlich auszuüben, selbstredend unter Beachtung allgemein gültiger Regeln wie Hygienekonzepte, Abstand etc.? Warum werden dann Museen geschlossen, die sich wie kaum andere öffentliche Räume regulieren lassen und den sorgfältigen Umgang mit dem anderen – ob Mensch oder Objekt – lehren? Diese Maßnahme ist verfassungsrechtlich mehr als bedenklich, ja unverhältnismäßig, da sie Freiheitsrechte einschränkt, ohne dass damit nachweislich der gewünschte Effekt einer drastischen Reduzierung des Infektionsrisikos eintritt. Dass die Museumsschließung von der Kultusministerkonferenz in Verschärfung der von der Bundeskanzlerin moderierten Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wurde, zeigt wie stark inzwischen der Blick auf Zahlen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse – mit der Frage: Was ist das wissenschaftlich Richtige? – den Blick der Politik bestimmt, die vor allem auch danach fragen sollte: Was ist das ethisch Gute für die Gemeinschaft?

 

Leitlinie für kluge Regelungen sollte sein, dass Freiheit „richtig“ ausgeübt und gelebt werden kann, also bei gleichzeitiger Beachtung deren Grenzen, vor allem dann, wenn Gesundheit, Umwelt oder auch soziale Gerechtigkeit nachweislich gefährdet werden. Wird dies eine „Idealvorstellung“ bleiben oder wird die Pandemie der Anlass sein, unsere Werte und Ideale aufzugeben? Im Straßenverkehr haben wir solcherart Abwägung von individueller Freiheit und allgemeiner Sicherheit über ein Jahrhundert praktiziert, Regeln aufgestellt und eingeübt und damit Leib und Leben schützen gelernt. Im Umgang mit der Pandemie haben wir indes nicht mehr viel Zeit.

 

Digitalisierung stärkt den mentalen Kapitalismus

 

Wenn jetzt nicht ein strategisches Umdenken Platz greift, kann sehr rasch eine radikale Folge eintreten: Die kulturelle Infrastruktur wird nicht mehr lebensfähig sein. Und eine unerträgliche weitere Folge ist absehbar: Es werden diejenigen immer machtvoller werden, die die Knotenpunkte des mentalen und digitalen Kapitalismus im Internet beherrschen, weil sie das Individuum in den privaten Räumen digital noch intensiver beeinflussen können als je zuvor, gerade so wie sich das Virus jetzt privat viel schneller unkontrolliert verbreitet als in offenen hygieneregelgerechten Kultureinrichtungen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.

Oliver Scheytt
Oliver Scheytt ist Geschäftsführer der KULTUREXPERTEN Dr. Scheytt GmbH und Professor für Kulturpolitik und kulturelle Infrastruktur an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
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