Kulturelle Infrastruktur im Zeichen von Corona

Zur Stillstellung der Kultur bei forciertem Betrieb

Staat und Gesellschaft, Institutionen und Systeme befinden sich in einem Ausnahmezustand. Die Auswirkungen der Pandemie auf die kulturelle Infrastruktur sind noch gar nicht vollends abzusehen, doch ist jetzt schon klar, dass wir unwiederbringlichen Verlusten ins Auge sehen müssen. Der einfache Satz: „In jeder Krise stecken auch Chancen“, erweist sich meist als richtig, doch bei allen Chancen, die die coronabedingte Digitalisierung für die weitere Entwicklung etwa auch mit Blick auf die Klimakrise mit sich bringt, müssen wir uns fragen, welche gesellschaftlichen Wirkungen das „Stillstellen der Kultur bei forciertem Betrieb“ hat. Erinnert sei zunächst an eine von der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ entwickelte grundlegende Idee und Denkfigur: Der Kulturstaat Deutschland basiert auf der „kulturellen Infrastruktur“. Deren Erhalt und Vitalität gehört zum Kern staatlicher Verantwortung für Kunst und Kultur.

 

Drei Sektoren – sehr unterschiedliche Folgen

 

Die kulturelle Infrastruktur besteht beileibe nicht nur aus öffentlichen Kulturinstitutionen, sondern auch aus privat-kommerziell ausgerichteten Kulturbetrieben, z. B. Privattheatern, Musicals, Filmwirtschaft, Kinos und den in diesen Strukturen wirkenden Künstlern und Kulturschaffenden – inzwischen bekannter unter der Bezeichnung „Soloselbständige“. Insgesamt haben in diesen Bereichen mehr als 1,5 Millionen Menschen ihr Ein- und Auskommen. Während die öffentlichen Kultureinrichtungen durch staatliche Zuschüsse sowie Kurzarbeit zumindest im Bestand gesichert sein dürften, sind die anderen Bereiche der kulturellen Infrastruktur derart massiv betroffen, dass kaum mehr vorstellbar ist, dass diese sich davon irgendwann erholen werden, bis auf wenige Ausnahmen. So addieren sich etwa die Verluste bei dem weltweit erfolgreichsten „stehenden“ Musicalbetrieb „Starlight-Express“ auf mehrere Millionen Euro, über 230 Beschäftigte sind seit März in Kurzarbeit, die Wieder-Inbetriebnahme würde mindestens 2 Millionen Euro Anlaufkosten verursachen und eine rentable Zuschauerzahl liegt bei deutlich mehr als 1.000. Immer mehr wird bewusst, dass der „Wirtschaftskreislauf“ in der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft dermaßen beeinträchtigt ist, dass staatliche Finanzhilfen die eintretenden Einnahmeverluste nicht annähernd ausgleichen können, da sich diese über den Zeitverlauf auf dreistellige Milliardensummen addieren würden.

 

Kunst und Kultur sind systemimmanent

 

Auch in diesem kurzen Einwurf kann keine Lösung für diese Katastrophe entwickelt werden, doch sei auf eine weitere grundlegende Themen- und Fragestellung hingewiesen, die in der öffentlichen Debatte stärker diskutiert werden müsste und auch eine Perspektive auf die gesellschaftlichen Folgen zu eröffnen sucht: Bisher stehen vor allem und durchaus zu Recht die Konsequenzen des Lockdowns für die Kulturschaffenden und -betriebe im Fokus. Dabei hat der Begriff „Systemrelevanz“ Konjunktur. Angebote von Kunst und Kultur sollen nach den jüngsten politischen Entscheidungen offensichtlich nicht in diese Kategorie gehören. Indes stellt sich die Frage, welches System jeweils angesprochen wird, für das etwas anderes relevant sein soll. Kunst und Kultur sind zwar letztlich nicht relevant für das reine „Überleben“. Sie sind aber systemimmanent für unser Leben schlechthin. Der Austausch von Bildern, Musik, Emotionen, die Begegnungen und das „Miteinander“ sind essenziell, machen das menschliche Leben aus.

 

Kunst und Kultur bieten Freiräume für die Entfaltung des Einzelnen und die Reflexion der die Gesellschaft verbindenden Werte. Oder wie es die UNESCO ausdrückt: Kultur kann „als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen“. In und durch die Kultur verhandelt die Gesellschaft ihre Regeln, wird sich der Einzelne seiner selbst bewusst. Um noch einmal die UNESCO zu zitieren: „Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl.“

Oliver Scheytt
Oliver Scheytt ist Geschäftsführer der KULTUREXPERTEN Dr. Scheytt GmbH und Professor für Kulturpolitik und kulturelle Infrastruktur an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
Vorheriger ArtikelZwischen Freiheit und Risiko
Nächster ArtikelNEUSTART KULTUR: Pandemiebedingte Investitionen