Kurz vor Kriegsende war Gerhart R. Baum mit seinen beiden Geschwistern und seiner Mutter aus dem zerstörten Dresden in das vom Krieg unbehelligte Idyll des Tegernseer Tals gekommen. Als Flüchtlinge lebten sie in diversen Unterkünften rund um den See. Ein Gymnasium gab es nicht und so schickte seine Mutter den damals 13-Jährigen zunächst zu einem Privatlehrer. Als 1949 das Gymnasium Tegernsee seinen Betrieb aufnahm, wurde es für Gerhart R. Baum zu einem wichtigen Ort der politischen, aber auch der kulturellen Bildung. Er erinnert sich: „Adolf Grote gehörte zu meinen ersten Lehrern. Während des Krieges hatte er einer Widerstandsgruppe angehört, aber auch aus einiger Entfernung dem Kreis um den Dichter Stefan George. Mein Vater ist nicht aus dem Krieg zurückgekommen. Grote wurde eine Art Vaterersatz, aber mehr als das: Er war mein Mentor.“ Der überzeugte Anti-Nazi Grote gab Baum »Der SS-Staat« und andere Analysen der deutschen Katastrophe zu lesen, die Bücher von Wilhelm Röpke und Karl Popper. Dazu gehörte »Dr. Faustus« von Thomas Mann – ein Künstlerroman, der die Wurzeln des Nazismus in Deutschland zum Thema hatte. Baum schrieb Thomas Mann, er teile die Besorgnisse und sei sich nicht sicher, ob die Demokratie gelingen würde. Er bekam eine freundliche Antwort. Grote führte den wissbegierigen jungen Baum an die Literatur heran, an die Bildende Kunst. Eine Zeit lang hatte Baum vor, Kunstgeschichte zu studieren. Vor allem prägte Grote Baum ein, dass mit deutschem Revanchismus die Zukunft nicht zu gestalten sei. So gehe kein Weg daran vorbei, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Diese Überzeugung und seine demokratischen Grundüberzeugungen trugen Baum in die FDP hinein.
1950 verlässt die Familie Baum das Tegernseer Tal und zieht nach Köln. Die Stadt wird ihm Heimat bis zum heutigen Tag. Nach dem Abitur 1954 durchläuft der 22-jährige Gerhart R. Baum sein Jura-Studium bis zum 1. Staatsexamen in nur drei Jahren. Zielstrebig will er die verlorenen Jahre aufholen. 1961 folgt das 2. Staatsexamen und von 1962 bis 1972 ist der Jurist bereits Mitglied der Geschäftsführung der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Schon während des Studiums war er Vorsitzender der Jugendorganisation der FDP gewesen und lernte Anfang der 1960er Jahre Liberale wie Ralf Dahrendorf, Karl-Hermann Flach, Hildegard Hamm-Brücher, Hans-Dietrich Genscher, Burkhard Hirsch und Günter Verheugen kennen. „Ich bin kein Marktfundamentalist“, betont Baum, der in der Tradition des sozialliberalen Freiburger Kreises steht. „Ich bin ein Rechtsstaatsliberaler.“
Bevor Baum als Anwalt der Künste ins Zentrum dieses Porträts rückt, ist ein kurzer Blick auf Baums Politikerkarriere unabdingbar: Seit 1954 ist er Mitglied der FDP; er war Bundesvorsitzender der Jungdemokraten, Kommunalpolitiker in Köln; 30 Jahre Mitglied des FDP-Bundesvorstandes – davon neun Jahre als Stellvertretender Bundesvorsitzender. Von 1972 bis 1994 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und gehörte von 1972 bis 1982 – erst als Parlamentarischer Staatssekretär und ab 1978 als Bundesinnenminister – der sozialliberalen Regierung erst unter Willy Brandt, dann unter Helmut Schmidt an. Seit 1994 engagiert Baum sich in der internationalen Menschenrechtspolitik und ist seitdem auch wieder als Anwalt tätig. Unter anderem vertrat er die russischen Zwangsarbeiter gegen die Bundesrepublik.
Seit der Schulzeit mit dem Tegernseer Lehrer Grote spielten Kunst und Kultur eine wichtige Rolle im Leben des Anwalts und Politikers. Regelmäßig besuchte er als Student die WDR-Reihe „Musik der Zeit“ in Köln. Hier wurde der Grundstein seiner Neigung zur Gegenwartsmusik gelegt. Seine Affinität zu den Künsten ergibt sich auch aus seiner selbstgestellten Aufgabe heraus, kulturpolitisch aktiv zu werden. Das war er in den 1970er Jahren als Stadtrat, später im Bundestag und bis heute als Vorsitzender des NRW-Kulturrats oder auch als WDR-Rundfunkrat. Bis 1998 war die Kultur als Ressort im Bundesinnenministerium angesiedelt. Zu Baums Zeit, zunächst als Parlamentarischer Staatssekretär und später als Minister von 1972 bis 1982 gab es, wie Baum sich erinnert, eine „sehr engagierte und personell hervorragend ausgestattete Kulturabteilung, an der Spitze Sieghardt von Köckritz, die gemeinsam mit mir viele Rahmenbedingungen im Kulturbereich verbessern konnte“.
In seinem Beitrag zu dem Sammelband „Wachgeküsst: 20 Jahre neue Kulturpolitik des Bundes 1998-2018“, herausgegeben von Olaf Zimmermann, schreibt Baum: „Erst langsam entwickelte sich ein kulturpolitisches Bewusstsein im Parlament. Zugleich wuchs das kulturpolitische Bewusstsein in der Gesellschaft. ‚Kunst ist kein Luxus‘, so lautete 1975 das Motto einer privaten Initiative, zu der zahlreiche Persönlichkeiten aus allen Bereichen von Kunst und Kultur aufgerufen hatten. Sie wandten sich gegen Tendenzen, Kulturförderung als jederzeit disponible Subvention anzusehen. Wir ermutigten die Verbände, sich im Deutschen Kulturrat zusammenzuschließen und sicherten institutionelle Förderung zu. Jede Gelegenheit wurde genutzt, den Kulturetat aufzustocken. Einer der Schwerpunkte in der Kulturpolitik ist immer wieder die Förderung des einzelnen Künstlers und der sogenannten Freien Szene. 1975 wurde der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene ›Künstlerbericht‹ veröffentlicht. Er hat der beruflichen und sozialen Situation der Künstler eine empirische Grundlage gegeben und war auch eine Grundlage für die Schaffung der Künstlersozialversicherung.“
Bundeskulturpolitik ist also nicht erst 1998 „wachgeküsst“ worden – so sinnvoll die Etablierung eines gesonderten Staatsamtes auch war.
Für Gerhart R. Baum ist Kunst ein Stück Freiheit. Und Demokratie ist für ihn ohne Kunst nicht vorstellbar. In einem Interview mit dem Autor dieses Porträts sagte er: „Heute ist die Kunstfreiheit in unserer Gesellschaft von rechts bedroht.“ Er warnt vor einem „Kulturkampf von rechts“, der durch vielfältige Aktionen in der ganzen Republik, etwa gegen die Theater, seine völkische Ideologie zum Maßstab der Kunstförderung machen will. Baum warnt vor einer Klimaverschlechterung, einer schleichenden Anpassung und der Förderung einer immer vorhandenen Feindseligkeit gegen das Neue in der Kunst. Etwa nach dem Motto, jetzt kann man es ja endlich offen sagen, dass der Beuys im Grunde kein Künstler war, und was soll ein öffentlich gefördertes Spezialisten-Festival wie Donaueschingen? Wer das will, solle es doch selbst bezahlen.
Bis heute nimmt Gerhart R. Baum regelmäßig an öffentlichen Diskussionen teil und publiziert in politischen Publikationen und Zeitungen. Man kann Baum und seine Frau Renate Liesmann-Baum, die wesentlich zu seiner Neugier auf Neue Musik beigetragen hat, jeden Oktober bei den Donaueschinger Musiktagen antreffen. „Es ist immer dasselbe: Bei den ersten Tönen, die ich höre, umfängt mich die Musik und meine Ohren sind offen. Ich möchte einfach wissen, wie meine Zeitgenossen komponieren, und bin neugierig auf die Aufführungen. Viele Menschen wissen gar nicht, was ihnen da entgeht.“
Baum setzte sich für den Erhalt des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg (SO) ein, das schließlich doch gegen alle Widerstände mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (RSO) fusioniert wurde. Das Eröffnungskonzert der Donaueschinger Musiktage 2019, Simon Steen-Andersens para-dadaistische Provokation „Trio“ als Zusammenführung der drei großen SWR-Klangkörper Orchester, Chor und Big Band, wurde zum „Hit“ des diesjährigen Festivals. War das nun ein Abgesang auf die goldenen Zeiten des Rundfunks als Kulturträger und Kunstproduzent? Oder doch eher eine Demonstration der Möglichkeiten eines starken Rundfunks?
Gerhart R. Baum: „Ich fand es einmal außerordentlich witzig, dann kompositorisch gekonnt. Es war genauso wenig Rückblick wie Abgesang, sondern eine Erinnerung daran, wie mächtig und nachhaltig Musik wirkt. Die Neue Musik lebt sehr stark von der Förderung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Daraus bezieht er unter anderem auch eine seiner Existenzberechtigungen. Das macht sonst niemand. Dafür haben wir die Rundfunkgebühren, die einem Rundfunkauftrag entspringen, der auch ein Kulturauftrag ist. Ich sehe eine große Aufgabe des Senders und der gesamten ARD in der Kulturvermittlung.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.