Eine Bereicherung

Ulla Schmidt im Gespräch über Inklusion in Kultur und Medien

Theresa Brüheim: Frau Schmidt, Sie schreiben im Geleitwort für das neue Buch „Inklusive Kulturpolitik“ von Jakob Johannes Koch: „Meine Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Behinderung sind eine Bereicherung für mich persönlich sowie für meine Politik“. Worin besteht die Bereicherung?
Ulla Schmidt: Menschen mit Behinderung stehen im Alltag regelmäßig vor erheblich größeren Herausforderungen als wir. Sie sind immer wieder gezwungen, sich auf ihre Umwelt einzustellen. Daher entwickeln sie ungeahnte Fähigkeiten. Wenn man – wie ich – sehr viel mit Menschen mit geistiger Behinderung arbeitet, die eine völlig unverfälschte Emotionalität haben, die sehr direkt und intensiv sind, dann erdet das einen gelegentlich. Viele Menschen mit Behinderung entwickeln eine ungebrochene Willenskraft – einfach weil sie sagen, das ist mein Leben und ich kenne es nicht anders. Das ist sehr besonders.


Mittlerweile sind Sportler mit Behinderung auch jenseits der Paralympischen Spiele in den Medien präsent. Regisseure, Künstler, Musiker mit Behinderung sieht man eher selten. Woran liegt das?

Es gibt immer noch das Vorurteil, dass Menschen mit Behinderungen nicht voll einsatzfähig sind. Es hat auch lange gedauert, bis die Paralympics den gleichen Stellenwert wie die Olympischen Spiele hatten. Als Gesundheitsministerin habe ich oft Sportlerinnen und Sportler verabschiedet und gesagt: „Sie sind die besten Botschafter und Botschafterinnen für Inklusion, weil Sie zeigen, über welche Kraft und enormen Fähigkeiten auch Menschen mit Behinderung verfügen können“. Wir haben immer noch dafür zu kämpfen, dass Menschen mit Behinderung auch im Fernsehen zu sehen sind. Im Bundestag habe ich mich lange und am Ende erfolgreich dafür eingesetzt, dass Sebastian Urbanski, ein Schauspieler mit Down-Syndrom, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus sprechen durfte. Wir müssen daran arbeiten, dass es mehr von diesen Beispielen gibt. Auch Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigungen müssen mit all ihren Fähigkeiten sichtbar sein. Es muss selbstverständlich werden. Nur die Leistung, die eine Künstlerin oder ein Künstler bringt, zählt – egal, ob der- oder diejenige nun das Horn mit den Händen oder mit den Füßen spielt wie Felix Klieser.

 

Wie kann diese Sichtbarkeit von Kulturschaffenden mit Behinderung verstärkt werden?
Wir müssen weiter dafür werben, dass auch Menschen mit Behinderungen auftreten können. Jeder hat sich an die kleinwüchsige Schauspielerin Christine Urspruch gewöhnt, die im Münsteraner Tatort spielt. Viele sagen, ein Mensch mit Behinderung, darf doch keinen Behinderten spielen. Warum nicht? Ein älterer Mensch spielt auch einen älteren Menschen, eine Frau spielt eine Frau, ein Mann spielt ein Mann usw. Wir brauchen aber auch die Kulturschaffenden, die mitmachen. Oft haben behinderte Künstlerinnen und Künstler keine Agenturen oder Vermittlungen. Dann fehlt das Geld um Fotos für Portfolios etc. zu machen. Auf der anderen Seite werden sie selten für Rollen gebucht. Deshalb treten sie weniger auf. Es muss mehr Organisationen geben, die auf diese Schwachstellen schauen. Wäre es nicht auch Zeit, für Nachrichtensprecherinnen und -sprecher mit Behinderung? Wir haben doch auch einen Finanzminister, der im Rollstuhl sitzt, und Bundestagspräsident wird. Wir haben auch eine Behindertenbeauftragte, die blind ist und ihre Rolle ausgezeichnet wahrnimmt. Diese Beispiele muss man den Verantwortlichen im Kulturbetrieb vor Augen führen!


Es gibt auch viele Kulturkonsumenten mit Behinderung. Beim Beispiel Museum gibt es über die Rampe am Museumseingang hinaus nur wenig inklusive Maßnahmen. Wieso ist der Kulturbereich da noch so rückschrittlich?

Das kommt jetzt erst langsam voran. Wir haben die Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Dann hat es fünf Jahre gedauert, ehe in Deutschland die Diskussion richtig anfing – erst mit der Großen Koalition, in der die SPD-Fraktion hier auf Fortschritte gedrängt hat. Mittlerweile haben wir Museen und andere Kultureinrichtungen, die daran arbeiten, inklusive Angebote zu machen. Wir sind nicht mehr ganz bei null. Im Bundestag habe ich darauf hingewirkt, dass die hier durchgeführten Ausstellungen barrierefrei sein müssen. D. h., es gibt nicht nur Rollstuhlrampen, sondern auch Barrierefreiheit für Gehörlose, Blinde und Informationen in leichter Sprache. Die Umsetzung ist jedes Mal eine Herausforderung. Da kommt immer das Argument: Das kostet aber Geld. Man muss entgegnen: Ja, aber die Behindertenrechtskonvention ist Gesetz, also muss das Geld aufgebracht werden. Auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung steht drin, dass alle Angebote Schritt für Schritt barrierefrei werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber jeden Tag muss ein Stück mehr barrierefrei werden. Da ist auch der Kulturbetrieb gefordert. Ein tolles Beispiel dafür, dass das teilweise schon klappt: In der Bundeskunsthalle in Bonn gab es im letzten Herbst die Ausstellung Touchdown mit Kunst von Menschen mit Down-Syndrom, durch die auch Menschen mit Down-Syndrom geführt haben.

 

Sie haben 17 Jahre als Sonderpädagogin gearbeitet und setzen sich mindestens so lang für Schulen und Kitas „für alle“ ein. Welche Vor-, aber auch Nachteile bringt das?
Die Vorteile überwiegen ganz klar. Kinder mit und ohne Behinderung sollten selbstverständlich miteinander aufwachsen und lernen. Davon profitieren auch die Kinder ohne Behinderung, da sie eine hohe Sozialkompetenz und füreinander Verantwortung übernehmen lernen. Ob Inklusion in der Praxis gelingt, ist eine Frage der Unterrichtsorganisation. Individuelles Lernen muss zum Grundprinzip werden. Das bedeutet, dass Klassen nicht mehr als 20 Kinder haben dürfen. Ich werbe auch für ein Zwei-Klassenlehrer-System – mit der Unterstützung von Sozialarbeit und Inklusionsbegleitung. Die Schule muss gut ausgerüstet sein, dann funktioniert es. Das ist meine persönliche Erfahrung als Sonderschullehrerin. Wir hatten damals gute Bedingungen an der Schule und die Kinder haben enorm profitiert. Auch meine Enkel sind an einer inklusiven Schule mit guten Bedingungen, sie nehmen enorm viel mit in Sachen Verantwortung für andere.

 

Das Bundesteilhabegesetz ist nun seit einem Jahr in Kraft. Was ist Ihre bisherige Bilanz?
Die Umsetzungsphase beginnt gerade erst. Dieses Jahr sind Schritte zum finanziellen Ausgleich für die Betroffenen in Gang gekommen. Erst ab nächstem Jahr startet die unabhängige Beratung. Das läuft gut in der Vorbereitung, gerade werden die Bewerber ausgewählt. Die unabhängige Beratung wird mit rund 60 Millionen Euro gefördert und ist ein wichtiger Baustein, um das Wahlrecht wahrnehmen zu können. Die Regelungen in Bezug auf Wohnen und soziale Teilhabe treten erst ab 2020 bis 2022 sukzessiv in Kraft.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2017.

Ulla Schmidt und Theresa Brüheim
Ulla Schmidt ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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