Brauchen wir eine inklusive Kulturpolitik?

Ständige Herausforderung für Politik und Praxis

Die Antwort auf die Frage in der Überschrift ist eigentlich einfach: Wir brauchen keine inklusive Kulturpolitik. Im Folgenden will ich erläutern, warum dies der Fall ist. Doch signalisiert das Wort „eigentlich“, dass wir eine solche Kulturpolitik doch brauchen. Zunächst zum ersten Teil der Antwort. Bei der Suche nach Begriffen, die mit Inklusion verwandt sind, wird man schnell fündig: Es geht um Partizipation, um Teilnahme und Teilhabe, es geht um Anerkennung und Mitgliedschaft, es geht um Integration. Noch deutlicher wird es, wenn man nach Gegenbegriffen sucht: Ausschluss, Diskriminierung, Barrieren, Hürden und Hindernisse. Dass man letzteres vermeiden will, sogar vermeiden muss, ist auf der rhetorischen Ebene Konsens. Denn die Begriffe der Teilhabe und der Partizipation haben geradezu einen Siegeszug in den letzten Jahren angetreten. Dies allerdings weist darauf hin, dass es Probleme in der Gesellschaft mit dem damit bezeichneten Sachverhalt gibt.

 

Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass es offensichtlich zwei Begriffe von Inklusion gibt: einen weiten Begriff so wie im englischsprachigen Original, der sich auf alle möglichen Formen von Ausgrenzung bezieht – Armut, Behinderung, Alter, Ethnie, Geschlecht, rechtlicher Status etc. Daneben gibt es einen in Deutschland gebräuchlicheren engen Begriff von Inklusion, der sich ausschließlich auf Menschen mit Behinderung bezieht.

 

Dass sich alle genannten Formen des Ausschlusses von Teilhabe definitiv nicht im Einklang mit unserer Rechtsordnung befinden, kann man leicht belegen. Ein Blick in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die damit verbundenen Menschenrechtskonventionen, die alle in Deutschland geltendes Recht sind, belegen dies. Es gibt bekanntlich zwei Gruppen von Menschenrechten: In einer ersten Gruppe geht es darum, den einzelnen Menschen vor Eingriffen in die persönliche Integrität – vor allem durch den Staat – zu schützen. Neben diesen Schutzrechten gibt es aber auch Anspruchsrechte. Bei diesen ist Teilhabe der zentrale Begriff. Es geht um politische, soziale, ökonomische und nicht zuletzt um kulturelle Teilhabe.

 

Wer sich auf Menschenrechte bezieht, muss ihre Universalität berücksichtigen: Sie gelten immer, sie gelten überall, sie gelten für alle Menschen und sie gelten nur alle gemeinsam. Genau dies drücken alle Konventionen aus. Sie drücken es sogar auf eine redundante Weise aus, sodass man sich fragen kann, wieso es diese Re­dundanzen gibt. Der Grund ist denkbar einfach: Er liegt in der Schwäche der Menschen. Nämlich darin, dass wir geneigt sind, trotz dieser geforderten Universalität der Menschenrechte doch Ausnahmen zu machen. Müssen tatsächlich alle Menschenrechte für Kinder gelten, müssen sie für alte Menschen, für Frauen, für Zugewanderte und Flüchtlinge und eben auch für Menschen mit Behinderung gelten? Eben weil immer wieder diese Fragen gestellt bzw. in der Praxis solche Ausnahmeregelungen realisiert werden, gibt es diese speziellen Menschenrechtskonventionen für Kinder und für behinderte Menschen.

 

Im Hinblick auf unsere Rechtslage ist es zum einen so, dass diese Konventionen vom Deutschen Bundestag ratifiziert worden sind und somit geltendes Recht sind. Zum anderen beziehen sich sowohl unser Grundgesetz als auch die jeweiligen Einzelgesetze auf diese Menschenrechte, sodass sich in rechtlicher Hinsicht die oben formulierte Behauptung bestätigt: Jede Politik und damit jede Kulturpolitik muss inklusiv sein, sonst verstößt sie gegen geltendes Recht, gegen unsere Werteordnung, gegen unser humanistisches Selbstverständnis.

 

Doch sieht die Realität anders aus: Zu der Akzeptanz der Menschenrechte gehört, dass sich die Staaten verpflichten, regelmäßig Umsetzungsberichte vorzulegen, die dann vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen kritisch überprüft werden. Leider spielen sowohl die Staatenberichte als auch die Evaluationsberichte des Menschenrechtsausschusses in der politischen Debatte in Deutschland eine zu kleine Rolle. Denn sonst würde man wissen, wie gravierend die Einwände gegen die vorgelegten Staatenberichte sind. Dies betrifft die unterschiedlichsten Formen von Teilhabe. So haben uns die schlechten PISA-Ergebnisse den Besuch eines Menschenrechtsbeauftragten eingebracht, weil man zu Recht einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf Bildung vermutet hat. Auch im Kulturbereich zeigen Nutzerstudien, dass von einer „Kultur für alle“ keine Rede sein kann. Der Sozialpolitikforscher Franz Xaver Kaufmann hatte seinerzeit im Hinblick auf soziale Teilhabe vier Stellschrauben identifiziert: Erreichbarkeit, Finanzierbarkeit, rechtliche Ermöglichung von Teilhabe und zuletzt Bildung. Diese Stellschrauben sind weitgehend identisch mit den berühmten vier A, die in den Debatten über Inklusion eine Rolle spielen: access, acceptability, availability und adaptability.

 

Alle vier Stellschrauben lassen sich als kritische Evaluationskriterien auch auf kulturelle Teilhabe anwenden. Eben weil eine solche Evaluation nicht dazu führt, dass man zufrieden mit der Umsetzung sein kann, muss es offenbar doch eine Kulturpolitik geben, die sensibel für Prozesse der Ausschließung ist. Dies betrifft auf der Makroebene die Rahmenbedingungen der Kulturpolitik, es betrifft auf der Mesoebene die notwendige Sensibilität in den Kultureinrichtungen und es betrifft nicht zuletzt auf der Mikroebene die menschlichen Beziehungen.

 

Dass es neben der rechtlichen Verpflichtung und neben dem Bezug auf unsere Werteordnung ganz pragmatische Argumente dafür gibt, alle Formen der Ausgrenzung erheblich zu reduzieren, ergibt sich daraus, dass die Legitimität einer öffentlichen Förderung nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn die versprochenen Ziele auch erreicht werden: Die klassische Forderung einer Kultur für alle ist keineswegs veraltet, sondern ständige Herausforderung für Politik und Praxis.


Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2017.

Max Fuchs
Max Fuchs ist Erziehungswissenschaftler. Er war bis 2014 Direktor der Akademie Remscheid und bis März 2013 Präsident des Deutschen Kulturrates.
Vorheriger ArtikelEine Bereicherung
Nächster ArtikelEin Spiegel der Gesellschaft