Ein Spiegel der Gesellschaft

Zukunftsziel "Inklusion" im Kultur- und Medienbetrieb

Wenn heute innerhalb des Kulturbetriebs von Inklusion gesprochen wird, denkt das Gros an barrierearme Zugänge für das Publikum. Die Wenigsten verbinden hiermit die künstlerische Produktion – ein Tabuthema? Es gibt einige wenige inklusive Ensembles, wie RambaZamba, oder inklusive Kulturfestivals, wie Sommerblut, die im Kulturbereich eine Bekanntheit und künstlerische Anerkennung erzielt haben. Aber verstärkt sich dadurch nicht die Bildung einer Parallelgesellschaft, auf der einen Seite inklusive Ensembles und auf der anderen Seite der nicht-inklusive professionelle Künstlermarkt?


Zum Status quo von Inklusion in Kultur und Medien

Seit drei Jahren existiert das Netzwerk Kultur und Inklusion, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln systematisch zu betrachten. Hierzu wird der Dialog mit Akteuren des Kultur- und Medienbetriebs gesucht, wie mit der Künstlersozialkasse, ZAV, ver.di,­ künstlerischen Hochschulen oder Kulturverbänden. Die erste Reaktion ist häufig Überraschung, die zweite Betroffenheit, da diese Perspektive in der bisherigen Arbeit oft unbewusst ausgeklammert wurde. Es folgt jedoch vielfach der Wunsch, hier künftig aktiver zu werden. Ein Grundproblem besteht in der mangelnden Datengrundlage zur Situation von Künstlern mit Behinderungen. Dass ein Defizit existiert, offenbart sich jedoch sehr deutlich bei den Darstellern auf der Bühne oder in den Medien. Hier gibt es nur wenige Ausnahmeerscheinungen, wie Thomas Quasthoff, Christine Urspruch oder Jana Zöll. Diese bescheinigen jedoch: Inklusion, künstlerische Qualität und Professionalität schließen sich nicht aus.

 

Eine explorative empirische Studie, die auf der letzten Netzwerk-Expertentagung zum Thema Medien in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW vorgestellt wurde und jeweils einen Tag ARD, ZDF und 3Sat untersuchte, zeigte eine erschütternde Bilanz: Von den über 5.000 erfassten Personen in insgesamt 66,25 Stunden Sendezeit – Massenszenen außer Acht gelassen – wurden insgesamt neun Personen mit Behinderungen erfasst. Das macht einen Anteil von 0,18 Prozent aus. Dagegen lag allein der Anteil der Personen mit Schwerbehinderungen in Deutschland 2015 bei 7,6 Prozent. Die in der Studie erfassten Personen mit Behinderung waren ausschließlich in non-formalen Sendeformaten präsent – also keine Schauspieler. Die einzige Person mit Behinderung und einem längeren Sendeanteil war übrigens Minister Wolfgang Schäuble. Die anderen tauchten jeweils kurz in Dokumentationen über Krankheiten und Spätabtreibung auf.

 

Gründe für mehr Inklusion in Kultur und Medien
Warum sollte sich der Kulturbereich eigenverantwortlich für mehr Inklusion engagieren? Da ist der politische Handlungsauftrag der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2008 in Kraft getreten ist: In Absatz 2 des Artikels 30 heißt es, dass geeignete Maßnahmen zu treffen sind, um Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen. Im Nationalen Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung von 2016 ist erstmals explizit als Ziel, die Anerkennung künstlerischer Leistung von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung unabhängig von der Zuschreibung „Behinderung“ genannt.

Neben politischen Notwendigkeiten gibt es weitere gute Gründe: Die Bühnen und Medien sind ein Spiegel der Gesellschaft. Werden hier Menschen mit Behinderungen mit ihrer künstlerischen Leistung präsent, und zwar nicht in ihrer alleinigen Reduzierung auf ihre Behinderung, strahlt dies einen wichtigen Impuls für unsere Gesellschaft aus.

 

Es gibt auch künstlerische Argumente: Mehr Vielfalt unter den Darstellern führt zu neuen kulturellen Ausdrucksformen. Diese können wir teils sehr konkret benennen wie neue erfahrbare Ästhetiken, z. B. die eines Rollstuhltänzers oder eines Sprechchors in Gebärdensprache. Entsprechende Vielfalt führt jedoch auch zu neuen künstlerischen Qualitäten, die wir uns sprachlich neu erschließen müssen. Dies zeigen auch vergangene inklusive Öffnungen der Künstlerbranche in der Kulturgeschichte.

 

Inklusion und künstlerische Qualität in einer kulturgeschichtlichen Perspektive
So durften im Elisabethanischen Zeitalter Frauenrollen nur von Männern gespielt werden. Die Öffnung der Bühne für Frauen hat neue künstlerische Qualitäten und Darstellungsformen eröffnet. Dies gilt auch für afroamerikanische Darsteller mit der Beendigung der „Blackface“-Praxis, in der sich weiße Künstler das Gesicht schwarz malten. Aktuell treten viele Schauspieler mit Migrationshintergrund dafür ein, in ihren Filmrollen nicht auf Migranten fixiert zu werden. Für Personen mit Behinderung stellt sich die aktuelle Stellenbesetzung viel drastischer dar: Die wenigen Filmrollen für Personen mit Behinderungen, wie z. B. in „Rain Man“ oder „Ziemlich beste Freunde“, werden heute von Nichtbehinderten gespielt. Schauspieler mit Behinderung haben aber aktuell auch kaum Chancen, Rollen von Nichtbehinderten zu spielen. Ein anzustrebendes Zukunftsziel ist, künftig den Künstler an erster Stelle wahrzunehmen und nicht die Behinderung – auch eine neue Qualität der künstlerischen Rezeption.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2017.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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