Krieg als Erwachen aus Stereotypen?

Einordnung zum Verhältnis Ukraine-Russland-Europa

Der Einmarsch der Russländischen Föderation in die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, kam für viele in Europa völlig überraschend. Das Undenkbare schien geschehen zu sein. Putins Aggression und die Reaktion der ukrainischen und weltweiten Gemeinschaft darauf haben uns alle vor eine Reihe äußerst schwieriger, manchmal unbequemer und wirklich schmerzhafter Fragen gestellt. Hier soll auf drei eingegangen werden: Warum hat Putin einen massiven Krieg gegen die Ukraine begonnen? Warum hat sich die Ukra­ine nicht nur gegen den Aggressor gewehrt, sondern mit Würde zurückgeschlagen? Wie erklärt sich die zurückhaltende und vorsichtige Haltung der meisten westlichen Länder, einschließlich Deutschlands, gegenüber der aggressiven Politik Russlands?

 

Wie ist Putins Logik zu verstehen?

 

Der Krieg gegen die Ukraine ist keineswegs die erste militärische Invasion des postsowjetischen Russlands. Im August 2008 marschierten russländische Truppen in Georgien ein. Im Winter und Frühjahr 2014 wurde die Krim unter direkter Beteiligung der russländischen Armee annektiert. Im Sommer 2014 beteiligte sich die reguläre russländische Armee an den Kämpfen im Donbas. Was war der Sinn all dieser militärischen Operationen?

 

In erster Linie ging es darum, die neue politische Legitimität der russischen Regierung und von Präsident Putin persönlich als „Sammler von Ländern“ zu bekräftigen. Die Ukraine nimmt in dieser Logik einen besonderen Platz ein.

 

Putins ständige Verweise auf „historische Argumente“, dass Russen und Ukrainer angeblich „ein Volk“ seien, wiederholen das gängige Konzept der imperialen Propaganda der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über das sogenannte „dreieinige russische Volk“, das angeblich alle Ostslawen vereint.

 

Solche Behauptungen von Präsident Putin und einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung Russlands lassen sich mit den Schwierigkeiten des postsowjetischen Russlands erklären, eine neue, nicht imperiale Version seiner Identität zu finden. Im Jahr 1997 betrachteten 56 Prozent der russländischen Bürgerinnen und Bürger Ukrainer und Russen als eine Nation (2002 waren es 76%, 2004 79%). Im Jahr 2005 wurde die Idee der „Wiedervereinigung“ der Ukraine und Russlands zu einem Staat von 61 Prozent der russländischen Bürgerinnen und Bürger positiv bewertet.

 

Wie Dmitri Furman bereits 2010 feststellte, hat sich das russische Nationalbewusstsein weder aus der imperialen noch aus der sowjetischen Gefangenschaft befreit und betrachtet die postsowjetischen Grenzen der Russländischen Föderation als unnatürlich und historisch ungerecht. Es erlaubt den politischen Eliten Russlands, die autoritäre Entwicklung ihres Landes mit der Behauptung zu rechtfertigen, dass andernfalls – bei mehr politischer Freiheit, Wahl der lokalen Behörden usw. – die Gefahr eines Staatszerfalls bestünde. Dies erklärt auch die unglaubliche (mehr als 80%) Unterstützung innerhalb Russlands für die Annexion der Krim.

Putin und seine Begleiter, die sich der postsowjetischen Situation der russischen Gesellschaft offenbar sehr wohl bewusst sind, haben sich als völlig unfähig erwiesen, die Dynamik der postsowjetischen Ukraine angemessen zu beurteilen.

 

Vielfalt als Stärke

 

1991 wurden alle in der Ukraine lebenden Menschen, unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Herkunft, zu vollwertigen Bürgerinnen und Bürgern des neuen Landes. Damals sagten viele den baldigen Zusammenbruch des Landes voraus und verwiesen auf die regionalen „Spaltungen“. Die These von den „zwei Ukrainern“ und die Überzeugung, dass die russischsprachige Bevölkerung politisch loyal zu Russland stehen würde, schienen für viele selbstverständlich zu sein. Nun die ersten Tage von Putins Krieg haben endgültig gezeigt, wie simpel und weit hergeholt diese Vorstellungen sind. Andernfalls wären die russischsprachigen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine massenhaft auf die Seite der Besatzer übergelaufen. Andernfalls wäre die Macht in einem so „tief gespaltenen“ Land schon in den ersten Tagen der Aggression gefallen. Warum ist es nicht passiert?

 

Es war Putins Krieg gegen die Ukraine, der endgültig gezeigt hat, dass sich in dem Land eine politische Nation als spezifisches Modell politischer Loyalität und Identität herausgebildet hat, die nicht auf Sprache oder Religion reduziert werden kann. Die Einheit der Ukraine angesichts der Invasion von außen wurde nicht durch religiöse – ich erinnere daran, dass es drei orthodoxe Kirchen im Land gibt – oder sprachliche Unterschiede beeinträchtigt. Um Letzteres zu verstehen, muss man sich von vereinfachenden Übertragungen des schweizerischen oder kanadischen Modells auf die ukrainische Realität befreien.

 

In der Ukraine gibt es keine klare geografische oder historische Grenze zwischen Russisch und Ukrainisch. Verschiedenen soziologischen Erhebungen zufolge sprechen etwa 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung nur oder überwiegend Russisch oder nur Ukrainisch, und etwa 20 Prozent gaben an, Ukrainisch gleichberechtigt mit Russisch zu verwenden. In der Ukraine kann man ein besonderes Modell der „situativen Zweisprachigkeit“ beobachten, bei dem das Ukrainische im Bildungswesen dominiert und das Russische in Politik und Wirtschaft vorherrscht. Am wichtigsten ist, dass in der Ukraine kein direkter Zusammenhang zwischen der bevorzugten Sprache und der politischen oder geopolitischen Ausrichtung der konkreten Person besteht. Insbesondere der letztgenannte Umstand macht Putins sprachliche „Argumente“ völlig losgelöst von den ukrainischen Realitäten.

 

Die ukrainische Vielfalt – nicht nur auf die sprachliche Vielfalt reduziert – braucht eine neue, angemessene Sprache, um sie zu beschreiben. Anstelle stereotyper Phrasen über eine „drohende Spaltung“ ist es an der Zeit, sie als entscheidende Quelle des politischen Pluralismus neu zu überdenken. Im Gegensatz zu den Nachbarländern Belarus und Russland hat sich in der Ukraine im Laufe der postsowjetischen Geschichte eine Tradition des politischen Wettbewerbs und des ständigen Machtwechsels entwickelt. Seit 1991 hatte das Land sechs Präsidenten, und nur einer von ihnen, Leonid Kutschma, schaffte es, für eine zweite Amtszeit wiedergewählt zu werden. Der derzeitige Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde mit einer absoluten Mehrheit in der gesamten Ukraine gewählt. Und während des Krieges erwies er sich ohne Übertreibung als wahrer nationaler Staatsmann.

 

Immer zu spät?

 

Im Mai 2004 fand eine große Osterweiterung der Europäischen Union statt. Die drei ehemaligen baltischen Republiken der UdSSR sowie Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn wurden unter anderem in die EU aufgenommen. Ebenfalls im Jahr 2004, allerdings im Oktober, begann in der Ukraine die Orangene Revolution als eine Form des friedlichen Massenprotests gegen gefälschte Präsidentschaftswahlen. Nach dem Sieg des pro-europäischen Kandidaten Wiktor Juschtschenko weigerte sich die EU strikt, die Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Ukraine anzuerkennen. Die gleiche Ablehnung folgte 2014 nach dem Euromaidan, bei dem Europa als Hauptbezugspunkt und Symbol für Demokratie, Freiheit und Wohlstand fungierte. Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU wurde von der Union in der ersten Woche der russländischen Aggression im Jahr 2022 endgültig anerkannt. Hätte man das nicht früher tun können?

 

Wie lässt sich der Rückstand Europas erklären? Insbesondere nach der Annexion der Krim und der direkten militärischen Intervention Russlands im Donbas. Die Abhängigkeit des Kontinents von russländischen Energie­ressourcen? Angst vor einer Atommacht? Historische Komplexe und Wahrnehmung einer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Russland (aber nicht Belarus oder die Ukraine)? Offenbar ist es eine Kombination all dieser Faktoren. Hinzu kam die allzu offensichtliche Tendenz, die ukrainische Geschichte auf „Faschismus und Kollaboration“ zu reduzieren, sowie die Zweifel an der Existenz der ukrainischen Nation selbst.

 

Ich bin davon überzeugt, dass es an der Zeit ist, offen über die Fehler und Verantwortlichkeiten ganzer akademischer Disziplinen und die Notwendigkeit einer systematischen Entwicklung der Ukrainistik zu sprechen – nicht als Negation der Russistik, sondern als kreatives Umdenken, als Chance, endlich neue Perspektiven sowohl für die Russland- als auch für die Sowjet-Studien zu sehen. In diesen Studien, wie auch in der internationalen Politik, hat die Ukraine die volle Anerkennung als vollwertiges Subjekt der europäischen und internationalen Geschichte verdient. In den schrecklichen Tagen eines verheerenden und unmenschlichen Krieges kommt ein Moment der Wahrheit, ein Moment des Überdenkens sowohl des Völkerrechts als auch der europäischen Werte und Konzepte der kollektiven Sicherheit.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.

Andrii Portnov
Andrii Portnov ist Professor für „Entangled History of Ukraine“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und Mitglied des Ukrainischen PEN-Clubs.
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