Wendepunkt: Krieg in der Ukraine

Kultur im Mittelpunkt der Debatte zu einer neuen differenzierten Ostpolitik

Der 24. Februar 2022 markiert einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Nach den sogenannten Balkankriegen im ehemaligen Jugoslawien, speziell dem Bosnienkrieg, erleben wir nach den unglaublichen Verwüstungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges wieder Krieg auf unserem Kontinent.

 

Schon in den ersten Wochen in diesem Jahr lag der sprichwörtliche Pulvergeruch in der Luft. Immer lauter waren die Töne aus Moskau. Unübersehbar die Truppenaufmärsche an der ukrainischen Ostgrenze und an der belarussischen Grenze. Einen Tag nach dem Ende der Olympischen Spiele überfiel Russland die Ukraine.

 

Zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe verteidigen die Ukrainer seit vier Wochen ihr Land. Vier schreckliche Wochen, in denen viele Menschen ihr Leben im Krieg verloren. Vier Wochen, in denen immer mehr Menschen auf der Flucht sind. Vier Wochen, in denen Familien auseinandergerissen wurden, Ehemänner, Söhne, Väter zurückblieben, Frauen und Kinder auf dem Weg nach Westen sind. Vier lange Wochen, in denen Städte in Schutt und Asche gelegt werden. Vier Wochen, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit in Russland immer mehr beschränkt wird.

 

Das Wort „Krieg“ darf im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine in Russland nicht verwendet werden. Wer es dennoch wagt, dem drohen drakonische Strafen. Der Zugang zum Internet und vor allem zu Plattformen wie Facebook oder Instagram wird in Russland massiv eingeschränkt bzw. vollständig abgestellt. In Russland sind unabhängige Informationen so gut wie nicht erhältlich.

 

Und bei uns? Zunächst einmal ist eine überwältigende Hilfsbereitschaft festzustellen. Menschen spenden Geld bzw. Zeit, um den nach Deutschland kommenden Geflüchteten zu helfen oder auch im Rahmen der humanitären Hilfe Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen. Benefizkonzerte werden veranstaltet, um Spenden zu sammeln. Seien es Konzerte in Kirchengemeinden, an kleineren Veranstaltungsorten, in Konzerthäusern und Theatern bis hin zum großen Ereignis „Sound of Peace“ am 20. März 2022 vor dem Brandenburger Tor in Berlin, bei dem rund zwölf Millionen Euro an Spenden eingesammelt wurden.

 

Viele Kulturverbände haben unmittelbar nach dem Angriff auf die Ukraine reagiert. Unisono wurde der Angriff verurteilt und Partei für die Menschen in der Ukraine ergriffen. Viele haben sich schnell und unkompliziert bereit erklärt zu helfen. Sei es durch die Zusammenstellung von Informationen über die Ukraine, sei es durch Jobportale für ukrainische Künstlerinnen bzw. im Kulturbereich Tätige, sei es durch Stipendien oder Residenzen und vieles andere mehr. Die Kulturstiftung des Bundes und das Goethe-Institut haben in Windeseile einen Nothilfefonds ins Leben gerufen. ICOM Deutschland koordiniert zusammen mit ICOMOS, der Deutschen UNESCO-Kommission, der Deutschen Nationalbibliothek und dem Bundesarchiv Maßnahmen zur Kulturgutsicherung in der Ukraine und viele andere Maßnahmen lassen sich aufführen. Allein die Zahl und die Schnelligkeit in der Bereitstellung der Hilfen beeindrucken. Die Kulturstaatsministerin hat eine Taskforce eingerichtet. Der Deutsche Kulturrat informiert und koordiniert bereits seit Kriegsbeginn Hilfsmaßnahmen aus dem Kulturbereich. Es bedarf allerdings eines starken Ukraine-Hilfsprogramms, analog von NEUSTART KULTUR, dem zwei Milliarden starken Coronahilfsprogramm.

 

Der Krieg hält aber auch in deutschen Kulturinstitutionen Einzug. Russische und ukrainische Musikerinnen und Musiker musizieren teils seit Jahren gemeinsam in einem Orchester, ukrainische und russische Tänzerinnen und Tänzer tanzen in einem Ensemble. Was bedeutet es für die Künstlerinnen und Künstler, die hier vor Ort bislang friedlich zusammenlebten und arbeiteten, wenn möglicherweise Familienangehörige von ihnen sich an der Front jetzt feindlich gegenüberstehen?

 

Während der Jugoslawienkriege wurden auch in Deutschland aus Freunden plötzlich Feinde. Es muss jetzt darum gehen, diese Feindlichkeit in Deutschland zu vermeiden. Nicht jeder Russe oder jede Russin ist ein Freund des Putin-Regimes. Und wir sollten uns meines Erachtens auch sehr davor hüten, von Künstlerinnen und Künstler, die in Deutschland arbeiten und aus Russland kommen, jetzt eine öffentliche Positionierung zu verlangen. Nicht nur, dass dies der im Grundgesetz verbrieften Kunst- und Meinungsfreiheit widersprechen würde, es würde in letzter Konsequenz bedeuten, von Menschen, deren Familie oder auch Freunde nach wie vor in Russland leben, zu verlangen, diese in unkalkulierbare Gefahr zu bringen. Das kann niemand ernsthaft wollen. Aktuell drängt die Nothilfe am meisten. Doch vollkommen unklar ist, wie lange die Kriegssituation andauern wird. Natürlich, die Geflüchteten, die hier ankommen, hegen die Hoffnung, möglichst schnell in ihre Heimat zurückzukehren, sich dort für den Wiederaufbau des Landes, für Kunst und Kultur einzusetzen. Die eilig angebotenen Integrationskurse oder auch Willkommensklassen in den Schulen für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen werden von Geflüchteten teils kritisch gesehen, da es ihnen nicht um das Hierbleiben, sondern um die schnelle Rückkehr geht. Doch ist dies einzulösen? Müssen nicht dennoch jetzt Anstrengungen unternommen werden, um ein Ankommen in Deutschland, und dazu gehört das Erlernen der deutschen Sprache sowie für Kinder und Jugendliche der Kontakt mit Gleichaltrigen, zu ermöglichen? Gerade Angebote der kulturellen Bildung können helfen, das Erlebte zu verarbeiten, Selbstbewusstsein zu entwickeln und neue Freundschaften zu schließen. Dies alles wird es nicht zum Nulltarif geben. Es wird erforderlich sein, hierfür beträchtliche Mittel zur Verfügung zu stellen.

 

Bei NEUSTART KULTUR haben die Bundeskulturfonds und Verbände gezeigt, dass sie sehr wirkungsvoll und zielgerichtet Mittel weiterreichen können. Diese Expertise sollte jetzt zurate gezogen und genutzt werden, um Unterstützungsstrukturen in Deutschland aufzubauen und zu etablieren. Die Auseinandersetzung mit dem Krieg und das Verhältnis zu unseren osteuropäischen Nachbarn muss aber über die aktuelle Situation hinausgeführt werden. Wie kann es sein, dass die Osteuropastudien nach dem Ende des Kalten Krieges so sträflich vernachlässigt wurden? Wurde in Deutschland vielleicht viel zu lange nur auf Russland geschaut und gerieten dabei die ehemaligen Sowjetrepubliken, die inzwischen selbständige Staaten sind, ins Hintertreffen? Wurde zu lange die Hoffnung geschürt, dass sich Russland durch den Ausbau der Handelsbeziehungen in die Völkergemeinschaft einbinden lassen würde, und wurde, um den Handel nicht zu gefährden, bewusst übersehen, wie die Spielräume der Zivilgesellschaft und der Medien in Russland immer enger wurden und ein Krieg gegen ein Nachbarland geplant wurde? Die Auseinandersetzung mit diesen und anderen Fragen steht erst noch an. Dabei wird es nicht um schnelle Antworten, sondern um eine gründliche Reflexion und einen neuen Anfang der Beziehungen mit osteuropäischen Ländern und auch mit Russland gehen. Es ist gut, dass sich der Deutsche Städtetag dafür ausspricht, die bestehenden Städtepartnerschaften mit russischen Städten nicht aufzukündigen. Die Begegnungen auf der kommunalen Ebene tragen den Keim für Verständigung in sich.

 

Die deutsche Politik hat sich innerhalb weniger Wochen grundsätzlich verändert. Dieser notwendige Wendepunkt darf nach meiner festen Überzeugung aber nicht nur die Aufrüstung unserer Armee zur Folge haben, er muss zugleich den Anlass zu einer neuen differenzierten Ostpolitik bieten. Die Kultur kann dabei nicht nur ein wichtiger Transmitter sein, sie ist der Mittelpunkt der Debatte.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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