Aiman A. Mazyek ist deutscher Medienberater, Publizist und Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland. Der Zentralrat gilt neben der zahlenmäßig größeren Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, dem Verband der Islamischen Kulturzentren, der alevitischen Gemeinde Deutschland und dem Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland als einer der wichtigsten islamischen Dachverbände in Deutschland. Aiman Mazyek wurde 1969 als Sohn eines syrischen Ingenieurs und einer deutschen Journalistin geboren. Er studierte in Aachen und Kairo. Zu seinen zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten zählen u.a. die Gründung der Organisation Grünhelme, in der insbesondere junge Christen und Muslime beim Wiederaufbau von durch Krieg und Naturkatastrophen zerstörten Schulen helfen.
Von 2007 bis 2011 war Mazyek Stadtverbandsvorsitzender der FDP in Alsdorf bei Aachen. Heute ist Mazyek parteilos. Andreas Kolb unterhielt sich für Politik & Kultur mit Aiman Mazyek über die Folgen der Masseneinwanderung für unsere Gesellschaft.
Herr Mazyek, wie haben Sie den Tag der Offenen Moschee am 3. Oktober verbracht?
Der Tag der Offenen Moschee ist inzwischen ein fester Bestandteil des deutschen Kulturinventars. Ich war am 3. Oktober in Berlin und habe sowohl einige Moscheen besucht, als auch die Einheitsfeier. Die beiden Veranstaltungen am selben Tag gehören für uns Muslime zusammen: Der Tag der Offenen Moschee zeigt unsere Haltung gegenüber der friedlichen Revolution der Deutschen, und er zeigt, dass wir ein Teil dieser Gesellschaft und dieses Landes sind.
Welche Folgen hat der verstärkte Zuzug von Muslimen aus der arabischen Welt nach Deutschland für den Zentralrat der Muslime? Und inwiefern hat das Thema Flüchtlingswelle Einfluss auf Ihr persönliches Leben?
Als der Verband mit den meisten arabisch sprechenden Moscheen waren wir ein Stück weit vorbereitet, bevor die große Zahl der Flüchtlinge hierhergekommen ist. Der Zentralrat hat seit Anfang 2015 einen Sport- und Flüchtlingsbeauftragen. Wir haben aber nicht die Möglichkeiten und Strukturen wie die großen Wohlfahrtsverbände und die Kirchen – In der Zeit des Ramadan haben wir eine große Aktion gestartet »Deutschland sorgt für Flüchtlinge« bei der viele Gemeinden Flüchtlinge eingeladen haben, egal welche Religionszugehörigkeit sie besaßen. Was mich persönlich angeht: Dadurch, dass ich einen syrischen Vater habe, habe ich den Puls nochmals näher an dem Land selber. Es war abzusehen, dass da etwas passieren wird. Ich erlebte hautnah wie viele syrische Familien schon 2013 und 2014 über 60.000 syrische Flüchtlinge mittels Bürgschaften nach Deutschland geholt haben.
„Nicht alle muslimischen Gemeinden helfen Flüchtlingen aus islamischen Ländern – zum Ärger derjenigen, die sich umso mehr kümmern.“ Diesen Satz titelte die FAZ am 8. Oktober auf der Politikseite.
Ich kann das nicht bestätigen. Die meisten Gemeinden leisten Hilfe. Solidarität und Mitmenschlichkeit sind der Religion inhärente Imperative. Immanuel Kant hat in »Der ewige Frieden« geschrieben, dass der Hilfesuchende ein Recht auf Hilfe hat. Außer wenn er die Hand gegen seine Helfer erhebt. Die Herleitung ist im Islam ein bisschen anders als bei einem Agnostiker und gleicht eher der christlichen oder jüdischen Ideenlehre. Problematisch sehe ich dagegen die Frage der Adressierung: Zunächst gab es eine öffentliche Diskussion darüber, was die Moscheen angesichts des Flüchtlingszustroms machten. Man stellte fest: Die Muslime leisten viel. Dann kam die Frage auf, was der Zentralrat tut, damit Extremisten die neue Freizügigkeit nicht ausnutzten. Schon wieder war die Adresse die muslimische Moschee.
Jetzt wo wir konkret Hilfe anbieten, da geht die Politik den bequemen Weg und sagt: Wir haben Netzwerke wie etwa die Wohlfahrtsverbände, mittels deren Strukturen die Hilfe dann verteilt wird. In diesem Moment werden wir nicht mehr adressiert.
Welches sind die Hilfen, die der Zentralrat der Muslime anbietet?
Es ist die ganze Klaviatur: Integrationslotsen, Übersetzer, Imame, die als Seelsorger und Tröster unterwegs sind, Schlafplätze in den Moscheen, Essen und Informationsveranstaltungen für Flüchtlinge, bis hin zu Deutschkursen in den Gemeinden und Geschenkeverteilung für Flüchtlingskinder zum Opferfest. Der Zentralrat setzt sich zudem über verschiedene Projekte speziell für unbegleitete Flüchtlingskinder und Waisen ein, indem diese z.B. über unser Netzwerk Pflegeeltern vermitteln werden. Wir leisten eine ganze Menge, insbesondere über unsere Moscheen vor Ort, wo Ehrenamtliche seit Monaten bis am Rand ihrer Erschöpfung arbeiten. Leider gibt es dennoch immer einen Vorbehalt gegenüber den muslimischen Einrichtungen und sie sind strukturell gegenüber den beispielsweise christlichen Wohlfahrtsverbänden benachteiligt. Bisher haben wir da keine richtigen Weg gefunden. Einerseits ist allen klar, dass wir da eine Schlüsselfunktion üben, andererseits wird diese aber bisher nicht entsprechend gewürdigt.
Ist es nicht Zeit für einen muslimischen Wohlfahrtsverband?
Ja, aber das geht nicht automatisch. Es geht natürlich auch um gewachsene Strukturen. Dieser Prozess ist bereits im Gange, spätestens seit die Islamkonferenz das Thema Wohlfahrt und Seelsorge auf die Tagesordnung gesetzt hat. Dass es eines Tages zu einem muslimischen Wohlfahrtsverband kommen wird, das ist jedem klar. Schon heute haben wir verschiedene Gemeinschaftsprojekte mit unterschiedlichen Akteuren wie Arbeiterwohlfahrt, Diakonie und Caritas. Bestimmte Bereiche, ich denke da an Palliativmedizin, Sterbebegleitung oder Seelsorge, werden die muslimischen Religionsgemeinschaften dann sicher selber übernehmen.
Gewinnt der Zentralrat der Muslime durch den Zuzug vieler syrischer Asylsuchender auch eine stärkere Position innerhalb der diversen muslimischen Dachverbände in Deutschland?
Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Fakt ist, dass viele unserer Moscheen seitdem voller geworden sind.
Sie haben bereits 1996, also zu einer Zeit, wo noch nicht viele online unterwegs waren, sehr modern gedacht, und eine wichtige Internetplattform initiiert, deren Chefredakteur Sie viele Jahre waren: www.islam.de.
Mit dem Portal hatten wir viele Jahre ein Alleinstellungsmerkmal.
Heutzutage – Gott sei Dank – haben wir eine ganze Reihe von muslimischen Internetpräsenzen, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte haben und auch Spezialisierungen.
Sie sind kein Ingenieur geworden wie ihr Vater, sondern Publizist. Was hat Sie geprägt?
Ich liebe die Klassik der deutschen Literatur. Wir hatten in der 12. Klasse einen so begnadeten Deutschlehrer, der uns »Faust I« so fantastisch im Unterricht nahebrachte, dass mich diese Zeilen, aber auch die Werke anderer Klassiker wie Schiller, Herder oder Lessing nicht mehr losgelassen haben. Ich habe damals angefangen, mehr schlecht als recht Gedichte zu schreiben. Auch das hat mich bis heute nicht losgelassen. Eine weitere Liebe ist die klassische Musik, neben Schubert oder Beethoven schätze ich insbesondere Tschaikowsky. Hier wäre der Einfluss meiner Mutter zu nennen, die die großen russischen Komponisten geliebt hat.
Waren Sie schon in Konzerten des in Bremen neu gegründeten Syrian Expat Philharmonic Orchestra?
Da war ich noch nicht. Aber ich habe mehrfach Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra live gehört.
Sie selbst sind geprägt vom aufklärerischen Geist der deutschen Klassik, insbesondere dem sogenannten Sturm- und Drang. Hat der Islam die Aufklärung noch vor sich? Entsteht durch die Migrationsbewegungen dieser Tage nicht die Chance, Aufklärung außerhalb der Kernländer des Islam neu zu wagen?
Dazu will ich etwas ausholen. Ich verstehe den Islam nicht als System, sondern als eine Frage von Prinzipien. Ich denke an das Gerechtigkeitsprinzip, auch an moralische Codexe, die Sie auch im Christen- und Judentum wiederfinden. Unsere Aufgabe liegt darin, diese Prinzipien in der jeweiligen Zeit, in der jeweiligen Kultur und Gesellschaft, entsprechend anzuwenden. Ich glaube da sollten wir Muslime uns fundamental von Ideologen jeder Art unterscheiden. Bundeskanzlerin Merkel sagte im Interview zum Thema Flüchtlingsproblem: »Wir sind eine christliche Partei.« Was heißt das als Christ gesprochen für den Umgang mit Asylsuchenden? Rein pragmatisch und sachlich könnte man als Politiker sagen: Wenn ich mehr Flüchtlinge hier reinlasse, dann kollabiert diese Gesellschaft oder diese Wirtschaft. Nüchtern betrachtet, ist die Gefahr nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber nein, Frau Merkel fragt sich: Was ist meine christliche Verantwortung? Und das bedeutet in diesem Fall Nächstenliebe – ein Prinzip und eine Haltung, die ein Muslim beispielsweise aus dem Gedanken der Barmherzigkeit ableitet, ja ableiten muss, will er ein guter Muslim sein. Einige Muslime haben insofern tatsächlich eine Aufklärung vor sich: Sie müssen ihre Religion aus der Verschüttung wieder entdecken! Vieles ist davon verschüttet und wir erleben ja gerade in der muslimischen Welt kein Aufbegehren oder ein Aufbäumen der Muslime, sondern eine tiefe Resignation, auch religiös gesehen. Das ist ein Ergebnis davon, dass wir unseren Glauben nicht als Haltung begreifen, sondern als ein ideologisches, abgeschlossenes System. Dabei kennt die islamische Welt durchaus eine eigene Zeit der »Aufklärung«, die bis zum Beginn der Neuzeit zur wissenschaftlichen Blüte der islamischen und auch der christlichen Länder beitrug.
„Wir dürfen Flüchtlinge nicht in Watte packen“ zitiert Sie die Berliner Zeitung. Wie ist das gemeint?
Das Prinzip heißt einfach „Fördern und Fordern“. Die Menschen, die herkommen, sollten so früh wie möglich die Chance erhalten, ihre Talente in die Gesellschaft mit einzubringen, gerade auch in die Arbeitswelt. Das Schlimmste wäre, durch lange Wartezeiten zu befördern, dass die Motivation der Asylsuchenden verschüttet wird, ihre Talente verkommen und sie dann nicht mehr in der Lage wären, sie zu nutzen. Das darf nicht passieren. Das ist damit gemeint.
Erleben viele Menschen, die jetzt neu in Deutschland und Europa ankommen, nicht einen Kulturschock? Welche Aufgaben wachsen den Künsten, und insbesondere der Kulturpolitik hier neu zu?
Dadurch, dass wir Neues zulassen, haben wir auch die Chance, unsere alten verkrusteten Strukturen zu revitalisieren. Ein Mehr an Vielfalt ist natürlich auch anstrengend, aber am Ende macht es einen auch stärker. Deutschland wird durch die Flüchtlinge am Ende nicht nur ökonomisch stark profitieren, die anderen europäischen Staaten werden noch staunen und dann wieder fragen: Wie hat das Deutschland nur gemacht?
Das Interview führte Andreas Kolb, Redakteur von Politik & Kultur.
Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2015 erschienen.