Der Kulturbetrieb muss sich öffnen

Die Welt befindet sich im dramatischen Umbruch. Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, so viele, wie noch nie zuvor gezählt wurden. Das bedeutet auch für uns in Europa Veränderungen, für die wir Verantwortung übernehmen müssen. Die letzten Wochen haben eindrücklich gezeigt, dass die Menschen in Deutschland dazu bereit sind. Bewegend ist die Solidarität vieler Menschen im ganzen Land, die spontan dort helfen, wo Geflüchtete ankommen und versorgt werden müssen. Doch die meisten, die vor Krieg, Ausgrenzung und Verfolgung zu uns fliehen, werden dauerhaft bleiben. Mindestens so wichtig wie die Erstversorgung ist deshalb die Frage, wie wir ihnen helfen können, sich in ihrer neuen Heimat schnell einzuleben, die Traumata der Flucht zu überwinden und gleichberechtigte Teilhabe zu erfahren.

„Kultur hat die Kraft, unterschiedliche Erfahrungen, Sozialisationen und Verhaltensweisen darzustellen  (…).“

Gerade hier können Kunst und Kultur eine wichtige Funktion übernehmen. Kultur hat die Kraft, unterschiedliche Erfahrungen, Sozialisationen und Verhaltensweisen darzustellen, für jeden erfahr- und erlebbar zu machen und so die Verschiedenheit in einer Gesellschaft produktiv zu verhandeln. Menschen, die hier eine neue Heimat suchen, können mit Hilfe von Kunst und Kultur vergangene Erlebnisse bearbeiten und ihre Erfahrungen des Ankommens in einer für sie fremden Umgebung in den öffentlichen Diskurs einspeisen.

 

Das bedeutet auch für den Kulturbetrieb notwendige Veränderungen. Kulturinstitutionen werden sich nicht nur für neue künstlerische Akteure öffnen müssen, sondern sie haben auch die Verantwortung, für ein vielfältiges Publikum attraktiv zu werden. Auch wird die derzeitige Förderpolitik im Kulturbereich sich die Frage gefallen lassen müssen, ob sie angemessen auf die stattfindende Veränderung der Gesellschaft vorbereitet ist und ausreichend zur Förderung künstlerischer Arbeit und kultureller Verhandlung neuer Wirklichkeiten beiträgt. Politik und Kulturschaffende müssen sich nun dringend der Aufgabe widmen, die Kultur zu stärken und ihre streitbare Kraft zur Ermöglichung eines friedlichen Zusammenlebens und einer gleichberechtigten Teilhabe aller zu fördern. Belohnt wird diese Öffnung dann sicher auch mit neuen Rezipienten, die mithelfen können, Kultur dort zu erhalten, wo sie vom demographischen Wandel bereits bedroht ist.

 

Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2015 erschienen.

Claudia Roth
Claudia Roth, MdB ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
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