Eine Gesellschaft verändert sich. Ständig. Und nicht erst seit heute. Sie ist heute eine andere als vor 30 oder gar vor 60 Jahren. Damals wurde meine Großmutter von ihrem späteren Ehemann in der Tanzstunde noch mit „Fräulein“ angesprochen und beide waren selten allein. Heute bewertet man sich bei Tinder gegenseitig im Netz und wenn man heiraten möchte, fragt man sicher nicht mehr die Eltern um Erlaubnis. Was wir lapidar mit „Das war eine andere Zeit“ abtun, war in Wirklichkeit ein ganz anderes Gesellschaftsbild.
„Die Flüchtlinge bringen ihre eigene Kultur nicht nur für sich selbst mit, sondern mittelfristig auch in unsere Gesellschaft ein.“
Der gesellschaftliche Wandel – und damit auch die sich ändernde Kultur – ist also erstmal nichts, was uns beunruhigen muss oder vor dem wir gar Angst haben müssten. Die hohe Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge stellt uns aber vor eine besondere Herausforderung. Der gesellschaftliche Wandel wird einerseits beschleunigt und schlägt andererseits eine Richtung ein, die für die meisten Menschen nicht vorhersehbar war.
Die Flüchtlinge bringen ihre eigene Kultur nicht nur für sich selbst mit, sondern mittelfristig auch in unsere Gesellschaft ein. Das kann unser Land, das kann Deutschland vielseitiger machen.
Doch es führt auch dazu, dass wir als Gesellschaft deutlich machen müssen, welche Prinzipien für uns unverrückbar sind, beispielsweise die Gleichberechtigung von Frau und Mann, Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit. Um diese Prinzipien unseres Zusammenlebens nach außen zu vertreten, müssen wir uns vorher nach innen einigen. Wir brauchen eine deutsche Leitkultur, die unser Selbstverständnis definiert, die das gesellschaftliche Leben in Deutschland charakterisiert und die Grenzen unserer Toleranz aufzeigt. Wir sollten die große Herausforderung der Flüchtlingsbewegung daher als Chance begreifen, uns bewusst zu werden, in was für einer Gesellschaft wir leben möchten. Welche Werte sind für uns unverrückbar? Was ist die deutsche Identität im Jahre 2015, was macht uns als Deutsche aus?
Wenn wir diese Debatte konstruktiv führen, können die Geflüchteten uns in doppelter Hinsicht bereichern: durch kulturelle Anregungen. Aber besonders durch ein stärkeres Bewusstsein für die eigenen Werte und die eigene Identität.
Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2015 erschienen.