Petra Bahr - 26. Dezember 2015 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Wertedebatte

Bewegung im Werden


Zehn Thesen zur Leitkultur der Einwanderungsgesellschaft

Über das Fremde spricht es sich leichter als über das Eigene. Deshalb sind Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden in unser Land kommen, zwar der Anlass, aber nicht die einzigen Adressaten der „Leitkultur“. Es ist wahr: Die, die zu uns kommen, brauchen eine Orientierung, die ihnen hilft, unsere Erwartungen, Regeln und Lebensformen zu verstehen. Sie sollen auch wissen, welche Voraussetzungen für das Heimischwerden in unserem Land gelten. Doch auch die Autochthonen oder die, die schon vor längerer oder gar sehr langer Zeit eingewandert sind, brauchen eine Orientierungshilfe, sie brauchen eine Verständigung und eine Vergewisserung. Wie wollen wir in einer Gesellschaft des sich zusehend verschärfenden Pluralismus der Herkünfte, Lebensformen und Vorstellungen von einer guten Zukunft gemeinsam leben? Die deutsche Gesellschaft, wir alle, werden uns mit den Flüchtlingen gemeinsam verändern. Eine Leitkulturdebatte unterläuft deshalb notwendig die Unterscheidung in „Sie“ und „Wir“, wenn sie sich ernst genug nimmt. In dieser Debatte geht es um den gemeinsamen Horizont aller.

 

Die aktuellen Flüchtlingsbewegungen mit dem Zielland Deutschland sind Vorboten einer Welt, in der die globalen Verwerfungen und Krisen, aber auch die Möglichkeiten und Chancen überall sichtbar werden. Wir Deutsche müssen uns fragen, wie wir uns als Einwanderungsgesellschaft verstehen. Lange haben wir diese Debatte nicht geführt – und sind doch eines der erfolgreichsten und liberalsten Länder der Welt geworden, bei all den integrationspolitischen Problemen, die es schon vor den Flüchtlingen gab. Die Verständigung über den gemeinsamen Horizont wird vor allem als Thematisierung von Verlustängsten geführt. Das „Eigene“ steht auf dem Spiel, auch wenn es schwer fällt, dieses „Eigene“ benennen zu können. Diese Sorge vor dem Verlust des Eigenen ist Ausdruck von Sorgen, aber auch von Kränkungen, weil durch die rasante Veränderung der Welt viele Erschütterungen zu innerer und äußerer Haltlosigkeit führen. Die Fremdheit mit der eigenen Welt trifft nun auch Fremde aus einer anderen Welt. Wer diese Kränkung auf den Fremden projiziert, für den ist das Eigene aber noch nicht sagbarer geworden. Er kann sich nur besser von der Leerstelle ablenken. Es bedarf deshalb einer auch öffentlichen Einübung ins Sprechen, ja Besprechen dessen, was angesichts der gewaltigen Bewegungen, die auch die deutsche Gesellschaft ergreifen, in den kommenden Spannungen zusammenhält. Dazu braucht es auch einen Sinn für die eigene Geschichte, vor allem aber eine gründliche Analyse. Wie funktioniert diese Gesellschaft denn? Was macht sie aus? Und woran scheitert sie? Fehlt diese Analyse, wird sie gar ersetzt durch ein apokalyptisches Raunen, dass jetzt eine Ära unwiederbringlich zu Ende geht, wird aus dem unsagbar Eigenen im Gegenüber zur Differenz des Fremden nur Wut und Abgrenzung bis zur Gewalt, jedoch keine „Kultur“.

 

Die Diskussion darüber, ob der Leitkulturbegriff geeignet und ungeeignet, längst verbraucht oder noch gar nicht richtig entdeckt ist, bleibt so lange ein Ablenkungsmanöver von Intellektuellen und Talkshow-Gästen, wie die Frage, welche Haltungen, welche Regeln und welche Orientierungen für das Miteinander in einer offenen, pluralen, freiheitlichen Gesellschaft es denn genau sind, die für unser Zusammenleben unabdingbar sind. Noch ist die Diskussion ähnlich verdruckst wie die Debatte um die Frage, ob es einen Kanon kultureller Regeln, Texte, Bücher oder Bilder geben muss, in dem diese künftig leitende Kultur bespielhaft aufgehoben ist. Eher diskutiert man über den Sinn oder Unsinn verbindlicher Kanonizes, als probeweise einen Kanon zusammenzustellen. Die Kanondebatten der letzten Jahre zeigen aber auch, dass in fruchtbaren Streits ein großer Konsens bleibt über das, was nach wie vor oder immer wieder neu für kostbar geachtet wird. Man könnte sogar weiter gehen: schon die intensive Diskussion über das, was zum Kanon gehört und was seine Kraft für die heute Lebenden verloren hat, ist Teil des Vergewisserungsprozesses: Was ist uns eigentlich wichtig? Ein Kanon versammelt das, was heute gültig ist. Der Kanon ist deshalb ein Modell für die Dynamik des Konservierens im heute nach den Kriterien von heute: Neue Texte kommen dazu, andere, ältere werden verworfen, noch ältere werden wiederentdeckt. Kanonisierungsprozesse sind Leitbildprozesse en miniature.

 

Leitkulturdebatten sind konservativ. Sie zu führen, steht deshalb Konservativen gut zu Gesicht. Allerdings geht es in diesem recht verstandenen Konservatismus nicht um den Schutz des Alten gegen die Bedrohung durch Neues. Schon gar nicht verbirgt sich hinter dieser Debatte eine politische Nostalgie. Der wahrhaft Konservative nimmt die Gegenwart, wie sie ist. Diesseits von Euphorie oder Untergangsphantasien, die er beide als Anmaßung gegenüber der Geschichte empfindet, fragt er nach dem Verteidigungswerten in der Veränderung, nicht nach einem Fluchtweg vor dieser Veränderung. Unter Umständen ist es deshalb der Konservative, der auch zum Vergessen oder Lassen von nur vermeintlich Wichtigem ermutigt. Konservatismus ist deshalb nicht das Gegenteil von einer Bewegung in eine offene Zukunft, sondern der Orientierungssinn. Die derzeitige Flüchtlingskrise ist eine Chance des Konservatismus für identitätspolitische Antworten, wenn es gelingt, Fragen nach Zugehörigkeit und Heimat, nach Selbstgewissheit und Gemeinsinn mit und für alle zu führen. Eine Identitätspolitik durch Abgrenzung schafft weder für individuelle noch für kollektive Identitäten stabiles Vertrauen in die eigenen Ressourcen. Identität durch Abgrenzung bleibt außenbestimmt und deshalb labil.

Die Alternativbegriffe, vor allem der Vorschlag, statt einer Leitkulturdebatte eine „Wertedebatte“ führen zu wollen, ist kein Ausweg, denn die Rede von den Werten trägt die Selbstrelativierung in sich. Was für den einen wertvoll ist, ist für den anderen nur von untergeordneter Güte. Wertedebatten sind deshalb Ausweis fragmentierter Normgefüge. Im Zweifelsfalle zeigen die Wertedebatten der letzten Jahre erstens, dass die Werte immer dem jeweils anderen fehlen, auf den man deshalb mit dem Finger zeigt oder zweitens die Werte so weit im Wertehimmel schweben, dass alle nur begeistert nicken, weil der Vorschlag keinerlei Folgen hat. „Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichberechtigung, Freiheit“. Große schwere Worte, jedes für sich braucht eine Verteidigung. Doch eine Leitkultur, die ihren Namen verdient, wird an ihren alltagspraktischen Folgen gemessen. Sie bestimmt nicht nur Grenzen, sondern auch Haltungen, mit denen es gelingen kann, Wertekonkurrenzen und Wertungen auszuhalten – und trotzdem für die eigenen Überzeugungen einzustehen. Sätze wie „Wenn Du Dich anstrengst, kannst Du es einmal besser haben.“ sind manchmal ebenso schlicht wie hilfreich.

Es reicht nicht, die Frage nach der Leitkultur mit dem Hinweis auf die Verfassung zu beenden oder mit dem schönen Wort des „Verfassungspatriotismus“ zu ersetzen. Die Verfassung ist mehr als ein Bündel von Abwehrrechten gegen den Staat, aber auch mehr als ein in sich verständlicher Regelkanon, den man nur auswendig lernen muss. Obwohl es eine schöne Übung für Schulkinder wäre, wenigstens die ersten Artikel des Grundgesetzes „by heart“, also in Kopf und Herz zu haben – die Leitbegriffe des Grundgesetzes sind voraussetzungsvoll. Die Verfassung als geronnenes Recht ist auch geronnene Kultur. Jede neue Entscheidung, jeder Versuch, Verfassungstreue und gesellschaftlichen Wandel in Rechtsauslegung und Rechtsprechung weiterzuentwickeln, zeigt aber, dass diese „Kultur“ nichts Abständiges, Vergangenes oder Festes ist. Sie ist selbst im Wandel. Wer wollte bestreiten, dass in alle Zentralbegriffe des Grundgesetzes kulturelle Vorstellungen eingewandert sind, die aus dem breiten Strom der Religions- und Geistesgeschichte gespeist sind. Deshalb lohnt es sich, die Verfassung auch als kulturellen Text zu lesen. Es können sogar wertvolle Hinweise für eine Alltagsleitkultur daraus erwachsen. Der Artikel über Religionsfreiheit etwa steht im Horizont vergangener Religionskonflikte und ihre Bändigung durch den Staat. Der Hinweis darauf, dass im Namen der Religionsfreiheit nicht alles geht, schon gar nicht die Beschimpfung, Verunglimpfung oder gar Bestrafung derer, die von der eigenen Religion nichts mehr wissen wollen, dass die Gleichwürdigkeit der Geschlechter auch in religiösen Angelegenheiten gilt und Schranken der Religionsfreiheit, etwa im Falle des Kopftuchs von Beamtinnen, möglich (und nötig) sind, ergibt sich aber nicht aus dem Gesetzestext, sondern höchstens aus Rechtsprechung und Auslegung, für alle greifbar aber in der gelebten Praxis der Religionsgemeinschaften in Deutschland.

 

Eine positive Formulierung der Rolle des Staates, mithin des Rechtsstaates, seiner Institutionen und seiner Symbole gehört zu den ersten Aufgaben der Leitkultur in der Einwanderungsgesellschaft. Die Achtung und der Respekt vor Vertreterinnen und Vertretern dieses Staates, der nicht als das Andere unser selbst, sondern als durch das Staatsvolk verfasst gedacht und verteidigt werden muss, muss Thema der künftigen Leitkultur sein. Es stimmt: Der freiheitlich demokratische Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Er lebt von den Überzeugungen und Haltungen, vom Mitwirken und Mitgestalten seiner Bürger. Doch die offene, plurale Gesellschaft lebt nur unter den Voraussetzungen, die der Staat garantieren kann.
Wenn gilt, dass Kultur das ist, was sich von selbst versteht und latent bleibt, dann wird die Thematisierung des Selbstverständlichen auch seinen Gegenstand verändern. Wem ist denn noch klar, dass sich der Sonntagsschutz der prägenden Kraft des Christentums verdankt und nicht der Kultur des „Ausschlafens und Brunchens“? Rückbesinnungen haben immer auch Konsequenzen, wenn sie mehr als rhetorische Rückverweise sind. Welche Konsequenzen hat denn die Beobachtung von Flüchtlingen, dass Deutschland ein sehr christliches Land sei, für künftige Debatten über die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit? Schon jetzt zeigt sich angesichts der lebensverachtenden Fratze des radikalen Islamismus eine neue Neigung zum Laizismus, also der weltanschaulichen Lehre, die glaubt, wir wären alle besser dran, wenn Religion keine Rolle im öffentlichen Leben spielt. Zur deutschen Leitkultur gehört es, auch in schwierigen Zeiten der laizistischen Versuchung nicht zu erliegen und Religion als ambivalente Macht zu beschreiben. Das stellt verfasste Kirchen vor andere Herausforderungen als die muslimischen Religionsgemeinschaften. Gefordert sind alle, dieses Verhältnis neu auszuloten.

 

In allen Debatten um Leitkultur spielt die Aufklärung als geistesgeschichtliche Wende der Zeiten eine bevorzugte Rolle. Die Ideale der Aufklärung, Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte werden groß gemacht. Die Aufklärung ist aber kein abgeschlossenes Geschichtszeichen, von dessen Strahlkraft wir heute noch zehren, Die Aufklärung als die „Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist ein Projekt, eine ständige Aufgabe, eine Herausforderung, die heute eher noch wächst. Nichts ist vor dieser Herausforderung sicher. Keine heiligen Bücher, keine heiligen Männer und Frauen, aber auch nicht das „Eigene“, das seine Aura nur so lange behält, wie es unbefragt bleibt. Vorlieben, kulturelle Gewohnheiten, Normen, ja sogar das Recht sind vor der Aufklärung nicht sicher. Das ist das Wagnis der geistigen Freiheit, das wir im Westen eingegangen sind. Diese Aufklärung auf Dauer zu stellen, sich in seiner Urteilskraft von Besonnenheit und genauem Blick leiten zu lassen, ist vielleicht die schwerste Übung in Zeiten, in der aggressive Ungeduld, schnelle Lösungen und markige Worte so viel leichter wirken als das aktive Aushalten einer offenen Zukunft.

 

Selbstverständigungsdebatten brauchen ein Forum, auf dem gemeinsam um Haltungen, Regeln und anerkannt Gültiges geredet wird. In Zeiten, in der mediale Öffentlichkeiten immer stärker fragmentieren und Netzgemeinden zu Selbstverstärkungsgemeinschaften werden, die sich abschließen gegen den Austausch von Informationen und den Streit um ihre Deutungen. Da ist schon die Klärung dessen, was der Fall ist, nicht mehr leicht herbeizuführen. Deshalb stellt sich mit großem Ernst die Frage, wo das Sprechen über das Gemeinsame denn anders als durch schroffe Abgrenzungen gegenüber den Anderen, „die da oben“ oder „die von draußen“, gelingen soll. Die demokratische Kultur, als deren Basis und Einlösung die kommende Leitkulturdebatte verstanden werden muss, braucht Austragungsorte und Bühnen für diese Diskussion. Nicht nur über das „was“, sondern auch über das „wo“ braucht es Verständigung. Es braucht Orte, wo das Sprechen über das Eigene, das Wichtige, das unmittelbar Notwendige eingeübt werden kann. Es braucht vertrauenswürdige Sprecher und Sprecherinnen, die auf großen und kleinen Bühnen möglichst viele Stimmen repräsentieren. Identitätspolitik, die akzeptiert, dass es Identität immer nur als Bewegung im Werden, als Selbstverständigungsprozess gibt, wird neue Orte des Sprechens erfinden und alten Orten neue Glaubwürdigkeit geben müssen.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2016 erschienen.


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