Wortduelle

Ein Förderprogramm für streitkulturelle Bildung?

Mit den digitalen Medien hat sich das Phänomen des Postfaktischen etabliert. Ein Grund hierfür ist die Schwierigkeit, innerhalb digitaler Plattformen zwischen „richtigen“ und „falschen“ Aussagen bzw. Fakten zu unterscheiden. So entwickelt sich ein Trend, eigene Positionen als mehrheitlich getragene oder faktisch „richtige“ zu klassifizieren. Dafür gibt es einen technischen Ausdruck, die sogenannte Filterblase, im Englischen „filter bubble“, geprägt vom Internetaktivisten Eli Pariser. Algorithmen transportieren über kommerzielle Suchmaschinen vor allem Inhalte und Meinungen, mit denen sich der oder die Suchende schon in der Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Eine Ghettoisierung von Milieus und Menschen mit ähnlichen Lebensperspektiven kann zunehmend auch analog innerhalb stadträumlicher Dimensionen beobachtet werden.

 

Dadurch verhärten sich gesellschaftliche „Fronten“. Polarisierungen entstehen mit gefährlichen Nebenwirkungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Einzelaussagen werden oft aus dem Zusammenhang heraus betrachtet und in Schubladen sortiert, beispielsweise in eine „rechte“ oder eine „linke“. Wer sich gegen eine unbegrenzte Zuwanderung geflüchteter Menschen positioniert, wird dabei oft in dieselbe „rechte“ Schublade gesteckt, wie derjenige, der sich menschenverachtend gegenüber Geflüchteten äußert.

 

Wir können diese postfaktischen Polarisierungstendenzen verstärken oder wir fangen an, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Dies bedingt eine grundsätzliche Entscheidung: Sind Menschen mit „rechten“ oder „linken“ Positionen satisfaktionsfähig für streitkulturelle Auseinandersetzungen? Geht es in einer Streitkultur um die Person, die Aussagen tätigt, oder um die konkreten Inhalte, die die Person äußert? Sind beispielsweise alle geäußerten Ansichten von Menschen, die auch „rechte“ Positionen vertreten, grundsätzlich falsch? Oder liegt eine Gefahr nicht vielmehr darin, dass sich menschenverachtende Positionen mit Überzeugungen vermischen, die durchaus ihre Berechtigung haben könnten? Und lehnen wir hier den Diskurs ab, vermengen sich dann in der Wahrnehmung Dritter nicht-akzeptable Positionen mit berechtigten kritischen Fragen, die dann die eigene Glaubwürdigkeit beschädigen?

 

Eine Kategorisierung in „Weiß“ und „Schwarz“, angesichts vieler Grauschattierungen, ist möglicherweise gar nicht zielführend. Innerhalb der „Künste“ sollte es kein „alternativlos“ geben, sondern Gestaltungsoptionen. Eine „offene“ Streitkultur bedarf klarer Regeln und Grenzen, aber auch der Fähigkeit, andere Perspektiven und Sichtweisen einzunehmen.

 

Die Attitüde einzelne Aussagen einer konkreten Schublade zuzuordnen, hat dabei noch andere gefährliche Nebenwirkungen. Eine einzige Aussage, die als politisch unkorrekt klassifiziert wird, führt heute oft dazu, dass sich die Person in ihrer beruflichen und privaten Existenz gefährdet sieht. Dies hemmt eine offene Streitkultur und schürt die Angst, sich mit kritischen Fragen auseinanderzusetzen. Wir dürfen verbale Wortduelle nicht zu existenzentscheidenden Duellen stilisieren.

 

Letztlich müssen wir uns entscheiden, ob wir uns weiter aufreiben wollen in der Aufregung über Gesagtes, das in unseren Augen nicht satisfaktionsfähig ist, oder ob wir eine Streitkultur suchen, die nicht rückwärtsgewandt ist, sondern Antworten auf berechtigte Zukunftsfragen im Diskurs sucht und damit einen Gegenpol zu Polarisierungstendenzen aufbaut – frei nach dem Zitat von Albert Einstein: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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