Wenn fünf eine Reise tun

Von zwei tüchtigen afghanischen Flüchtlingen und zwei Künstlerinnen

Kürzlich war ich zu einer interessanten Ausstellung in Ostende in Belgien eingeladen. Eine irische und eine belgische Künstlerin haben sieben Jahre lang eine Schafzucht in Irland betrieben. Ihnen gehe es um menschliche Interaktion, das Verhältnis zwischen Mensch und Tier und nachhaltigen, respektvollen Umgang mit allem, was lebt, hieß es in der Einladung. Die Erfahrungen ihres persönlichen wie künstlerischen Feldversuchs wollten sie nun weitergeben. Das lockte mich. Man bot mir an, von Hamburg aus zu fliegen. Ich lehnte dankend ab. Nicht aus „Flugscham“, Nonsens, sondern aus Respekt vor mir selbst. Ich liebe es, Zug zu fahren. Entspannt zu reisen, die Landschaften vor dem Fenster zu betrachten, lesen, Musik hören, nachdenken, schreiben, dösen, vor allem mit Mitreisenden ins Gespräch zu kommen: Das ist für mich Genuss von Anfang an. Zumindest dann, wenn ich nicht eiligst von A nach B muss. Und es schont Nerven, Energie, Umwelt, Klima.

 

In diesem Fall musste ich indes zunächst auf einen Flixtrain warten, der seinem Namen keine Ehre machte: vom Start in Altona bis zum Süden Hamburgs eine Stunde zu spät – das schafft selbst die Deutsche Bahn (DB) kaum. Die uralten Waggons, wahrscheinlich noch der Reichsbahn, müffelten. Der Zugführer muffelte. Als ich ihn nach meinem DB-Anschluss in Köln und einem Gutschein für die Verspätung fragte, gab er sich doppelt unkundig. Ich verkniff mir, ihm zu sagen, dass Buskonkurrenten der Bahn, wenn sie ins Zuggeschäft kommen wollen, besser sein müssten als die DB, nicht schlechter.

 

Mehr als wettgemacht wurde dieser unerfreuliche Beginn durch zwei afghanische Flüchtlinge in meinem Abteil, die mir sofort ihre Hilfe und von ihrer Reiseverpflegung anboten. Beide sind 2015 nach Hamburg geflüchtet. Der Ältere berichtete, dass er Lkw-Motoren repariere und auf Dienstreise sei. Er erzählte mir schreckliche Erlebnisse aus dem ewigen Krieg in seiner Heimat, die ich hier nicht wiedergeben kann. Nur so viel: In einer Nacht hätten er und andere nach einem Bombenanschlag Teile von 40 Menschen zusammenklauben müssen. Umso froher sei er nun, in Deutschland friedlich seinem Beruf nachgehen und für seine Familie sorgen zu können. Der Jüngere ist Bauingenieur. Bereits mit 30 Jahren war er Vizerektor der Polytechnischen Hochschule in Kabul, an der er studiert hatte – weil es kein anderer machen wollte. Jetzt ist er 35, hat fünf Kinder, darf aber erst mal nur ein Praktikum bei einem internationalen Baukonzern absolvieren, weil sein Deutsch – anders als sein Englisch – noch nicht perfekt sei und weil seine Zeugnisse noch nicht alle übersetzt und beglaubigt seien. Mein Kopfschütteln ob dieses Irrsinns quittierte er mit verlegenem Lächeln. Als ich ihn fragte, ob er nicht in Afghanistan gebraucht werde, um das Land wieder aufzubauen, schaute er mich freundlich an: „Natürlich würde ich liebend gern in meiner Heimat bauen. Aber da wird alles nur ständig zerstört.“ Außerdem sei es für seine Familie viel zu gefährlich dort. Wir verabredeten uns zu einem baldigen gemeinsamen Essen mit unseren Frauen und Kindern.

 

In Ostende, einer eigenartigen Kombi aus heruntergekommener Hafen- und Industriestadt, die dank junger Digitalfirmen langsam wieder aufblüht, mit einem früher mondänen Seebad stieg ich aus. Hinter dem Bahnhof stand am Meerufer auf stählernen Riesenfüßen untätig eine gewaltige Schiffsplattform, die normalerweise Masten und Rotoren für Offshore-Windparks in der Nordsee aufstellt. Zu dem einstigen Grandhotel am Strand, in dem wir nächtigten, heute mehr eine riesige Ruine mit abgestützten Säulenhallen, daneben ein bunt beleuchtetes Denkmal des belgischen Kongo-Kolonialistenkönigs Leopold II. hoch zu Ross, waren es nur wenige Schritte.

 

Am Vorabend der Ausstellungseröffnung gingen wir mit den beiden Kunstschaffenden Orla Barry und Els Dietvorst essen. Ich saß neben der Belgierin. Sie erzählte mir, dass sie sich in Brüssel kennengelernt hätten, wo Barry 15 Jahre lang lebte, bis sie von der Stadt genug hatte und beschloss, wieder auf den einsamen Hof ihres Vaters im Süden Irlands zu ziehen. Dietvorst ging mit, weil sie ein Paar geworden waren. Doch auf der kargen grünen Insel, zwei Stunden von Dublin entfernt und gleichfalls am Meer, mussten sie feststellen, dass sie dort von ihrer Kunst nicht leben konnten. „Eines Morgens standen wir im ständigen Regen und Kälte vor dem Hof, schauten uns an und entschieden, das zu tun, was dort alle machen: Schafe züchten.“ Sie hatten aber keine Ahnung von dem Geschäft. Die sehr männlichen irischen Schafzüchter verspotteten die beiden Frauen, „bis sie merkten, dass wir es ernst meinten. Da haben sie uns gezeigt, wie man es macht“. Schon bald wurden sie in den Züchterverein aufgenommen. Dietvorst hatte die unangenehme Rolle: „Ich habe mit Orla die Tiere nicht nur geschoren, sondern auch geschlachtet. Natürlich haben wir das Fleisch gegessen. Das gehört zum Respekt vor der Kreatur. Man kann ihnen nicht ihre Wolle nehmen und sagen: Der Rest interessiert uns nicht.“

 

In ihrer geteilten Doppelausstellung „Wintrum frod“, Angelsächsisch für „Weise im Winter“, im Ostendischen Mu.ZEE, einem früheren Industriebau, und im ehemaligen ländlichen Wohnhaus des Malers Constant Permeke, heute ein nach ihm benanntes Museum am Rand der Stadt, ist viel von der selbst gemachten Wolle, irischer Landschaft und der anstrengenden Schafzeit der beiden Künstlerinnen zu sehen: Worte wie „Shaved Rapunzel“ in braunem Filz; verarbeitete Fundstücke aus der Natur; Notizzettel mit täglichen Erledigungen; ausgestopfte Tiere in düsterem Setting. Alles getreu ihrem Motto „learning by doing“. Am anschaulichsten sind ruhige Videos von Dietvorst, die den mühseligen Alltag der irischen Schäfer zeigen. Sie sind auch im Internet zu sehen.

 

Die Eröffnung folgte, anders als das dargebotene Kunst-Arbeitsleben im Einklang mit der Natur, musealen Riten: Reden und eine längliche Performance vor gepflegtem Publikum. Als ich mich ermüdet in einen ausgebreiteten flauschigen Wollhaufen fallen lassen wollte, stoppte mich die junge Kuratorin entsetzt: „Don’t touch!“ Dabei hatten uns die Künstlerinnen ausdrücklich dazu ermuntert.

 

Nach der Landpartie der Vernissage gab es einen sommerlichen Empfang unter Bäumen, mit weiteren Reden, Champus und Essen. Allerdings kein Lamm, kein Schaffleisch. Zu viel Respekt?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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