Wie wollen wir leben?

Naturkundemuseen bieten Räume für Lösungen

Die Natur muss gefühlt werden, das wusste schon Alexander von Humboldt. Der Mensch als Teil der Natur ist elementar auf sie angewiesen, um gesund und gut zu leben. Naturkundemuseen laden dazu ein, die Schönheit der Natur wie in einem Brennglas mit allen Sinnen zu erleben und den Strom des Lebens, die Evolution, zu entdecken. Sie bieten den Raum, um sich selbst als Teil der Natur zu empfinden. Sie öffnen für alle, die uns besuchen, den Pfad vom Konsum- zum Naturmenschen, vielleicht sogar zu einem Leben in Harmonie mit der Natur.

 

Noch immer ist unsere Welt auf Profit getrimmt, ist Wertschätzung auf Konsum statt auf Wohlbefinden geeicht. Wäre es anders, würde es unserem Planeten und all seinen Bewohnern besser gehen. Doch Arten – und damit eben auch Menschen – können nur gedeihen, wenn alles um sie herum ebenfalls gedeiht. Dieser Erkenntnis des britischen Naturforschers David Attenborough schließe ich mich an. Naturkundemuseen sind daher auch immer Orte, wo die Frage „Wie wollen wir leben?“ verhandelt wird. Denn eines ist klar: Zerstören wir die Erde, zerstören wir uns.

„Wir müssen uns mit der Klimakatastrophe auseinandersetzen, die Artenvielfalt schützen und die natürlichen Systeme stärken, von denen unsere Zivilisation abhängt“, schrieb der Chefredakteur der renommierten medizinischen Zeitschrift „The Lancet“, Richard Horton anlässlich der Veröffentlichung des 5. Lancet Reports zu den unübersehbaren Zusammenhängen von Klima und Gesundheit. Allein in Folge der Hitzewellen, die Europa 2003 erlebte, starben mehr als 70.000 Menschen. Und rund um den Globus sind, folgt man der international angesehenen Klimawissenschaftlerin Friederike Otto, die Hitzewellen die tödlichste aller Folgen des Klimawandels. Doch was hat das mit Naturkundemuseen zu tun?

Es kann, so paradox es klingen mag, nichts so bleiben, wie es ist, weil nichts so bleibt, wie es ist. Das zeigt das Beispiel der Hitzewellen, die weltweit auftreten und deren Folgen wie Brände, Dürren, aber auch Überschwemmungen durch Gletscherschmelzen verheerend sind. Aber das ist auch die Botschaft, die die Objekte in unseren Sammlungen und Ausstellungen, die unsere Forschung erzählen. Die Erde gibt es seit über vier Milliarden Jahren, Lebewesen seit über drei Milliarden Jahren – in all dieser unendlichen Zeit war Veränderung die Normalität – allerdings eine, die gestaltet werden kann und in unseren Zeiten auch muss. Veränderung ist der Puls des Lebens.

 

So sind die Dinosaurier ein gutes Beispiel für Veränderungen durch Katastrophen. Ihr Aussterben vor 65 Millionen Jahren folgte einer gravierenden Veränderung ihrer Lebensumwelt – ob durch den Einschlag eines Meteoriten, den Ausbruch von Vulkanen oder den Umbau der Pflanzenwelt, oder allen dreien, ist ungeklärt. Klar ist, damit hatte der Mensch nichts zu tun. Doch mit ihm kam vor 2,5 Millionen Jahren die Veränderung durch Design – der vor etwa 12.000 Jahren begonnene Ackerbau zeitigt bis heute die größte Umgestaltung unseres Heimatplaneten. Seit dem Beginn der Industrialisierung vor 2.000 Jahren, also der Nutzung von fossilen Energien, hat der Mensch die Erde so massiv geformt, ja verformt, wie kein anderes Lebewesen. Und das zeigt: Wir können gestalten. Der Mensch, nicht einmal in dieser Masse, ist nicht das Problem, unsere Lebensweise ist es. Sie ignoriert, dass es planetare Grenzen gibt und wir uns in ihnen einrichten müssen.

Naturkundemuseen sind Orte, die die Natur als eine lebensverändernde Kraft erfahrbar machen – und den Irrglauben sichtbar machen, wir seien die Herren der Natur. Kolonialismus, Rassismus und das fossile Zeitalter haben insbesondere die Menschen im Globalen Norden zu dem Trugschluss verleitet, dass wir die Natur kontrollieren können. Doch die Natur ist nur durch ein Leben in Harmonie mit ihr für uns lebensspendend – nicht durch Ausbeutung.

Naturkundemuseen spielten in diesem Irrglauben lange mit. Unsere Sammlungen sind oftmals Ergebnis kolonialer Eroberungszüge, spiegelten die irrsinnige Idee von der Überlegenheit der weißen „Rasse“ – bekanntlich gibt es biologisch betrachtet keine Rassen! – wider, vertieften die sozialen Spaltungen und verfestigten antidemokratische Tendenzen.

 

War es doch der schwedische Naturforscher Carl von Linné, der mit der seinem Werk „Systema Naturae“ nicht nur die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Namensgebung (Taxonomie) legte, sondern auch menschliche Rassen als biologische Tatsache einführte. Er beschrieb vier Rassen. Seine Beschreibung, auf deren Darstellung ich hier bewusst verzichte, prägen bis heute das Bild vieler Menschen, durchziehen den Alltag. Wir müssen uns von diesen befreien. Sie sind nichts als Fake News. Sie dienen dazu, Kolonialismus und Sklaverei zu verharmlosen und die Ausbeutung des Globalen Südens fortzusetzen. Sie legitimierten scheinbar eine Lebensweise in unseren Breiten, die auf Kosten anderer Länder, anderer Menschen geht. Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeit, sondern nur eines Blicks auf die Krisen, Kriege und Katastrophen rund um den Globus, um zu wissen, das geht nicht gut.

 

Die Aufarbeitung dieser kolonialen Bezüge in den Sammlungen, die wir auch am Museum für Naturkunde in Berlin unseren Besuchenden in den Ausstellungen darlegen, ist eine Befreiung. Sie ist die unabdingbare Voraussetzung, damit Naturkundemuseen wie das unsrige überhaupt zur Diskussion mit allen Menschen über die Frage „Wie wollen wir leben?« beitragen kann.

 

Unsere Antwort darauf: Wir brauchen eine andere Wissenschaft, die Raum für Debatten nach demokratischen Spielregeln über Wege aus der Krise anbietet, die alle Menschen als gleichberechtigte Akteure schätzt, die Wissenschaft sowie Kultur als Gleiche unter Gleichen versteht und so unsere Gesellschaft stärkt. Wir arbeiten daran, dass Formen unterschiedlichen Wissens Einzug in unsere Sammlungen und Forschung erhalten. Wir haben erfahren, dass dieses unsere Arbeit bereichert – und manchmal, wie beim Insektenstreben, sind es gerade diese anderen Wissenskontexte, die gesellschaftlich und wissenschaftliche relevantes Wissen schaffen.

 

Wir brauchen dafür neue, dynamische Formate des Dialogs und Austausches, mit der Öffentlichkeit, mit der Wirtschaft, mit der Industrie, mit der Politik und mit der Kultur und weiteren Akteuren. Wir sehen es als unsere Aufgabe, hier einen Kulturwandel zu befördern, bei dem Wissen auf respektvolle und gleichberechtigte Weise zwischen Wissenschaft und Gesellschaft geteilt wird. Das ist anstrengend – aber lohnend und unabdingbar angesichts von Klimawandel und des Verlusts an Biodiversität, beides ausgelöst durch unsere Lebensweise. Es bedarf einer Wissenschaft, die dazu beiträgt, die Folgen des Kolonialismus und totalitärer Systeme zu überwinden, die dazu beiträgt, dass freie und gleiche Menschen, egal wo auf dieser Erde, gemeinsam klären, wie sie friedlich und gut auf einem gesunden Planeten leben wollen.

 

Naturkundemuseen sind Räume für Lösungen, schließlich erzählen unsere Ausstellungen davon, wie über die Jahrmillionen hinweg das Leben überlebenswichtige Lösungen schuf. Naturkundemuseen sind daher Orte, um Lösungen zu erdenken und sie gemeinsam in unterschiedlichen Lebenswelten auszuprobieren. Um es in Anlehnung an ein Sprichwort zu formulieren: Reden ist gut, Handeln ist besser. Wissenschaftskommunikation, die ihren Namen verdient, muss gemeinsame Wege zum Handeln eröffnen.

Wir wissen dabei alle, dass „Normalität“, dass „weiter so“ eine starke Droge ist. Unser Gehirn liebt Gewohnheiten, fressen sie doch weniger Energie als Veränderungen. Umso wichtiger ist es, Schritt für Schritt auf das Ziel, eines guten Lebens auf einem gesunden Planeten zuzusteuern. Naturkundemuseen lehren wissensbasiert, dass ständige Veränderung und Wandel natürlich und soziale Systeme nicht in Stein gemeißelt sind, dass ein Leben in Harmonie mit der Natur machbar ist und dass wir alle konkret dazu beitragen können. Dafür bedarf es des Abwägens von Argumenten, das in Staaten, die sich demokratischen Strukturen verpflichtet fühlen, im Mittelpunkt von Entscheidungen stehen muss.

 

Die Art und Weise, wie sich Wissenschaft, Gesellschaft und Natur miteinander verknüpfen, muss neu kalibriert werden. Dafür braucht es Mut, Experimente und Innovationen in der Wissenschaft. Neben seiner breiten Bildungsarbeit und den vielbesuchten, oftmals interaktiven Ausstellungen hat das Museum für Naturkunde sich auf den Weg gemacht, innovative Instrumente wie die Berlin School of Public Engagement, das Kompetenzzentrum für Citizen Science, NaturWissenBerlin, Bromacker oder auch das transnationale TheMuseumsLab zu entwickeln. So lernen wir von Gemeinschaften auf lokaler, nationaler und globaler Ebene: Wissen, das unsere Arbeit bereichert und unsere Forschung(-seinrichtung) weiterentwickelt.

 

Es bedarf des Endes von „das haben wir immer schon so gemacht“ – das gilt auch für den politischen Raum, für politische Entscheidungen. Dafür bedarf es des Mutes zu Experimenten, zu gemeinsamen Lösungen und des Willens zur Veränderung – auf allen Ebenen. Alles andere ist billig.

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Johannes Vogel ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde, Leibniz- Instituts für Evolutions- und Biodiversitätsforschung, und Professor für Biodiversität & Wissenschaftsdialog an der Humboldt-Universität zu Berlin
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